„Wir alle sind fähig, Dinge zu glauben,
von denen wir wissen, dass sie nicht wahr sind.
Wenn wir dann widerlegt werden,
verdrehen wir schamlos die Fakten,
damit sie unsere Auffassung stützen.
Intellektuell können wir dieses Spiel endlos weiterführen:
Geprüft wird dieses Modell erst,
wenn – früher oder später –
eine unserer falschen Ideen mit der Wirklichkeit kollidiert.
Gemeinhin passiert das auf dem Schlachtfeld.“
George Orwell (1946)1
Worum geht es bei der kognitiven Dissonanz?
Die Theorie der kognitiven Dissonanz2 erklärt, warum wir manche Einstellungen, Meinungen und andere kognitive Elemente beibehalten oder ändern.
Das Prinzip der kognitiven Dissonanz entspricht dem Abwehr-Mechanismus der Rechtfertigung3 aus der Psychoanalyse. Da es aber aus der Sozialpsychologie stammt sind die Fragestellungen und Anwendungsgebiete andere als in der Psychoanalyse.
Das Grundprinzip ist einfach: Wir vertragen keine Unstimmigkeiten (‚Dissonanzen) in unserem Kopf und versuchen sie zu reduziere, z. B.
- Wenn zwei Meinungen in uns kollidieren, nicht zusammenpassen, so ändern wir eine oder suchen Gründe, wieso das trotzdem zusammenpasst.
- Wenn unser (vergangenes) Verhalten nicht mit unseren Einstellungen zusammenpasst, so ändern wir die Einstellung oder suchen Gründe, warum es trotzdem ein ‚richtiges‘ Verhalten war.
- Wenn die Gefahr besteht, dass sich herausstellt, dass vergangene Handlungen, Entscheidungen usw. falsch oder irrational gewesen sein könnten, dann filtern wir Informationen und nehmen nur jene auf, die unser Verhalten bestätigen.
- Dass dies meist unbewusste Prozesse sind, wissen wir aus der Psychoanalyse, damit beschäftigt sich die Sozial-Psychologie nicht.
Die Attraktivität dieser Theorie lebt davon, dass es zahlreiche Experimente zu ihr gegeben hat, die die Evidenz ihrer Aussagen bestätigen.
Was sind Kognitionen? Was sind Dissonanzen?
Kognitionen ist alles, was in unserem Kopf ist – unwissenschaftlich erklärt, z. B. Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Absichten, Wünsche … usw.4
Dissonanzen sind innere Konflikte bzw. Widersprüche zwischen Kognitionen, die uns unangenehm sind, weil sie Spannungen und negative Gefühle hervorrufen. Daher sind wir bestrebt, diese kognitiven Dissonanzen abzubauen und kognitive Konsistenz (Übereinstimmungen in unserem Denkgefüge) herzustellen.
Anwendungen
Es gibt zahlreiche Anwendungen dieser Theorie.
„Festinger beschreibt seine Theorie anhand von 4 Anwendungen:
- Dissonanz vor und nach Entscheidungen (pre-/post decisional dissonance): z. B. Einstellung zu einem Produkt verbessert sich nach dem Kauf.
- Dissonanz nach forcierter Zustimmung (forced compliance Paradigma): Einstellung-Änderung nur, wenn forcierte Zustimmung hoch belohnt wird.
- Dissonanz und selektive Informationssuche (selective exposure): Z. B.: Nach dem Kauf eines Produkts (Auto) sucht man mehr nach positiven als nach kritischen Informationen zu diesem Produkt bzw. nach negativen Informationen zu Konkurrenz-Produkten.
- Dissonanz und soziale Unterstützung (social support): Z. B. Eigene Wahrnehmungen und Meinungen über andere Personen stehen mit Aussagen / Meinungen anderer (von mir geschätzten) Personen im Widerspruch.“5
Ursprünge der Theorie
Andreas Püttmann beschreibt die Ursprünge der Theorie der kognitiven Dissonanz als Erfahrung Leon Festingers mit einem Weltuntergangs-Kult (Andreas Püttmann: Kognitive Dissonanz.):
„In den 1950er-Jahren behauptete Marian Keech (eigentlich Dorothy Martin) aus Salt Lake City, Nachrichten von der Außerirdischen „Sananda vom Planeten Clarion“ zu empfangen. Sie scharte in Wisconsin einen Kult um sich, der ihren Vorhersagen glaubte, eine gewaltige Flut werde alle Menschen auf der Erde töten, und nur die Anhänger des Kults würden von fliegenden Untertassen gerettet. Als die prophezeite Flut ausblieb, schien die Gruppe blamiert, der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch anstatt das Versagen ihres Glaubens einzugestehen und sich von ihrer Führerin abzuwenden, erklärten sich die Anhänger in ihrem Glauben bestärkt. Sie behaupteten nun, ihre Gebete hätten Gott umgestimmt, und ersuchten weiter, andere Menschen zu ihren Ansichten zu bekehren.
Der US-amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger entwickelte auf Basis dieser Begebenheit 1957 seine Theorie der kognitiven Dissonanz („Missklang im Erkennen“). Die Theorie erklärt, wie miteinander unvereinbare Kognitionen – Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten – innere Konflikte verursachen, die Vermeidungs-Reaktionen oder andere zur Verminderung dieser Konflikte geeignete Verhaltensweisen hervorrufen.“
Wodurch entsteht kognitive Dissonanz?
Kognitive Dissonanz ist ein wahrgenommener Widerspruch mit Relevanz.
„Kognitive Dissonanz entsteht immer dann, wenn eine Person zwischen zwei wahrgenommenen Kognitionen einen Widerspruch empfindet, d.h. wenn psychologisch aus den Annahmen einer Kognition das Gegenteil einer anderen Kognition folgt. Eine Voraussetzung zur Wahrnehmung kognitiver Dissonanz ist eine empfundene Relevanzbeziehung zwischen den beteiligten Kognitionen, denn nicht zwischen allen Kognitionen bestehen Beziehungen, wie obiges Beispiel zeigt. Das vielleicht bekannteste Beispiel für das Entstehen kognitiver Dissonanz ist ein Raucher, der die Information erhält, dass das Rauchen gesundheitsschädliche Folgen hat, dieser jedoch gleichzeitig den Wunsch nach persönlicher Gesundheit verfolgt.“ 6
Kognitive Dissonanz entsteht, wenn unsere Wahrnehmungen (A hilft B) mit unseren Einstellungen bzw. (vermeintlichen) Wissen (A ist ein egoistischer Mensch) kollidieren. Sie entsteht vor allem auch, wenn wir Handlungen setzen bzw. Entscheidungen treffen und mit unerwünschten Folgen konfrontiert sind. Da es für Handlungen bzw. Entscheidungen immer Alternativen gibt, sind in der Regel auch negative Konsequenzen damit verbunden. 7
Weitere Beispiele
Beispiel Triangulierung
Ein Beispiel für die Entstehung einer Dissonanz ist eine ‚Triangulierung‚, ein gestörtes Verhältnis zwischen 3 Personen (‚Triade‚). Haben z. B. 2 Freunde A und B unterschiedliche Meinungen von C, obwohl sich A und B gegenseitig (wert-)schätzen, so passt das nicht zusammen, es entsteht eine Dissonanz und häufig das Bestreben die Dissonanz abzubauen, z. B. durch Abwertung. Wenn ich z. B. C schätze, mein Freund B aber eine schlechte Meinung von C hat, so kann ich entweder C oder meinen Freund B abwerten, damit wieder alles zusammen-passt.
Triaden sind ein häufiges Analyse-Modell für soziale Systeme (Familien, Arbeits-Teams, …). Starre Triaden sind dysfunktionale Triaden, bei denen 2 Personen ihre Beziehung auf Kosten einer dritten Person verbessern / stabilisieren. Starre Triaden wurden vor allem in der Familien-Psychologie untersucht, z. B.
- Eltern halten zusammen gegen ein ‚Problem-Kind‘ oder
- ein Elternteil verbündet sich mit dem Kind gegen den anderen Elternteil. (‚Perverses Dreieck‘)
In beiden Fällen brauchen (‚missbrauchen‚) die Eltern ein Kind, um ihre Beziehung zu stabilisieren bzw. zu retten und bringen das Kind in einen Loyalitäts-Konflikt. Auch das ist eine Abwertung.
Beispiel: Opfer Abwertung (Victim blaming)
Wehrlose Opfer werden von Tätern (oder Dritten) abgewertet: Mit (Schein-)Argumenten werden die Taten gerechtfertigt: „Die Opfer haben selbst / auch Schuld.“ (oder: „Das sind für mich keine Menschen.“) – wegen ihrem Verhalten, ihrem Aussehen, ihrer Herkunft, …
Konkretes betriebliches Beispiel
Ein konkretes Beispiel aus einem größeren Familienunternehmen im Einzelhandel: Ein langjähriger Mitarbeiter des Unternehmens verdankt dem Unternehmen sehr viel. Das Unternehmen hat ihm z. B. über private Krisen hinweggeholfen. Er überreichte der Geschäftsleitung gemeinsam mit dem Kündigungsschreiben eine Liste mit Dingen, die er dem Unternehmen verdankte. Und er bedankte sich sehr ausführlich dafür und gab auch die Gründe für seine Entscheidung an. Sie lagen im privaten Bereich. Nicht nur seine Kolleg*innen, auch die Geschäftsleitung bedauerte sein Ausscheiden, war aber über die 3-monatige Kündigungszeit froh, da noch genügend Zeit für die Einarbeitung seines Nachfolgers verblieb. Umso erstaunter war die Geschäftsleitung, als nach einiger Zeit mehrere Kolleg*innen kamen und sich über ihn zu beschweren bzw. ersuchten, ihn früher freizusetzen, weil er ständig nörgelte, viele Kleinigkeiten aufbauschte und viele Dinge, die er vorher vertreten hatte, schlecht machte. Niemand hatte damit gerechnet.
Ein Erklärungsansatz ist die post decisional dissonance: Die Entscheidung stand in Dissonanz zu vergangenen Ereignissen und Bewertungen. Man könnte es auch als „schlechtes Gewissen“ bezeichnen. „Er lässt die Firma in Stich, obwohl er ihr so viel zu verdanken hatte.“ Indem er (vermeintlich?) viel Schlechtes im Unternehmen wahrnahm, konnte er wieder in ein inneres Gleichgewicht finden.
Literatur & Links
Kognitive Dissonanz
Leon Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford, CA: Stanford University Press 1957 (reissued 1962 (eingeschränkte Textproben), 1968, ). deutsch: Theorie der Kognitiven Dissonanz. Huber Verlag Bern 2012 (1 – 1978)
Gerhard Raab, Fritz Unger: Die Theorie kognitiver Dissonanz. Kap. 6 in: Marktpsychologie. Gabler Verlag, 2001, (4. Aufl. 2016) S. 42 – 64. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-92968-6_4. Aus: link.springer.com. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-322-92968-6_4.
Carol Tavris: Elliot Aronson: Ich habe recht, auch wenn ich mich irre: Warum wir fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln rechtfertigen. Riemann Verlag.
o. A.: Kognitive Dissonanz. In: Lexikon der Psychologie (Dorsch). Aus: portal.hogrefe.com. https://portal.hogrefe.com/dorsch/kognitive-dissonanz-1/.
Werner Stangl: Kognitive Dissonanz. Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Aus: lexikon.stangl.eu. https://lexikon.stangl.eu/755/kognitive-dissonanz/.
Andreas Püttmann: Kognitive Dissonanz. Über unsere verderbliche Neigung, die Kenntnisnahme von Wirklichkeiten zu verweigern. Die politische Meinung, Nr. 480. · November 2009, S. 74–76. Aus: www.kas.de. https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=8c0de85f-9e87-2b40-12da-2888ab483917&groupId=252038. (full text)
Carol Tavris, Elliot Aronson: Ich habe recht, auch wenn ich mich irre. Warum wir fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln rechtfertigen. Riemann Verlag, 2010
R.I. Evans: Psychologie im Gespräch. Springer-Verlag 2013. (Kap. 25: Leon Festinger)
o. A.: Kognitive Dissonanz. Aus: de.wikipedia.org. https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz
Triaden, Triangulierung, dysfunktionale Triaden
Laura M. Frey (2017) Perverse Triangles in Family Systems Theory. In: Lebow J., Chambers A., Breunlin D. (eds.) Encyclopedia of Couple and Family Therapy. Springer, Cham. Aus Springer Link. http://springer.iq-technikum.de/referenceworkentry/10.1007/978-3-319-15877-8_339-1#howtocite.
Fritz B. Simon, Ulrich Clement, Helm Stierlin: Die Sprache der Familientherapie. Stuttgart 2004 (Beitrag: Triangulation/Dreiecksbildung, S. 333 f.) (docplayer)
Rüdiger Retzlaff: Spiel-Räume.
Jürgen Kriz: Systemische Familientherapie.
Wolf Ritscher: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. (Helmut Stierlins Beiträge zur Familien-Therapie)
o. A.: Triangulation / Divide & Conquer. Aus: outofthefog.website. https://outofthefog.website/top-100-trait-blog/2015/11/4/triangulation-divide-conquer.
o.A. Triade (Familientherapie). Aus: de.wikipedia.org. https://de.wikipedia.org/wiki/Triade_(Familientherapie).
engl.:
Peter Buchheim, Manfred Cierpka, Theodor Seifert: Teil 1 Konflikte in der Triade. Teil 2 Spielregeln in der Psychotherapie. Teil 3 Weiterbildungsforschung und Evaluation. Springer-Verlag, 2013.
Querverweise
(in Klammer stehen die Teilthemen)
Warum lebe ich nicht mein authentisches Leben?. (Authentisches Leben, Introjektion, z.T. Projektion)
Abwertungen vergiften Beziehungen. (Abwertung/ Wertschätzung, z. T. Kränkung, z. T. sprachliche Abwertungen, kognitive Dissonanz, Formen der Abwertung, Ursachen, Selbstabwertung, Bedingte Wertschätzung, Umgang (Schlagfertigkeit, Namaste, Überempfindlichkeit, Epiktet)
Kollusive Beziehungen. (Kollusion – Jürg Willi, Narzisstische Kollusion, Psychosoziale Arrangements – Stavros Mentzos)
Innere Abwehrmechanismen. (Abwehrmechanismen)
Entdeckung unserer Eltern-Botschaften. (Botschaften / Script als Kollusion)
Sag mir, was Dich ärgert, und ich sag Dir, wer Du bist. (Spiegelung, Projektion, Übertragung, Beispiele)
Was passiert bei kognitiver Dissonanz? (Kognitive Dissonanz)
- Aus: Carol Tavris, Elliot Aronson: Ich habe recht, auch wenn ich mich irre. ↵
- Die Theorie der kognitiven Dissonanz hat ihre Ursprünge im Kognitivismus und stammt von Leon Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. ↵
- Vgl. dazu meinen Beitrag über Abwehr-Mechanismen. ↵
- Gerhard Raab und Fritz Unger (Die Theorie kognitiver Dissonanz.) beziehen sich auf Festinger und definieren Kognitionen:
„Diese Theorie geht ursprünglich auf Festinger (1957) zurück, der Kognitionen als Ausgangspunkt der Dissonanztheorie wie folgt definiert: „By the term cognition … I mean any knowledge, opinion, or belief about the environment, about oneself, or about one’s behavior” (ebenda, S. 3). Kognitionen sind also alle Wünsche, Annahmen, Kenntnisse, Erinnerungen, wahrgenommenes eigenes Verhalten und die wahrgenommenen Folgen eigener Verhaltensweisen, ebenso aber auch Annahmen über andere Personen und deren Verhaltensweisen sowie empfundene Beziehungen zu anderen Personen. Die Menge aller Kognitionen einer Person bildet ihr kognitives System.“ ↵
- aus: Gerhard Raab, Fritz Unger: Die Theorie kognitiver Dissonanz. ↵
- aus: Gerhard Raab, Fritz Unger Die Theorie kognitiver Dissonanz. ↵
- Negative Folgen einer Entscheidung:
„Die Theorie kognitiver Dissonanz nach Festinger … bezieht sich auf das Entstehen kognitiver Dissonanz nach Handlungen und dem anschließenden Informations-Beschaffungs- und -Verarbeitungs-Verhalten, das durch die Motivation zum Abbau dieser Dissonanz gekennzeichnet ist. Nach Festinger … befindet sich eine Person vor einer Entscheidung bzw. Handlung in einem Konflikt (zwischen Alternativen wählen zu müssen), danach im Zustand kognitiver Dissonanz (die gewählte Alternative rechtfertigen zu müssen). Alle Entscheidungen (und daraus folgende Handlungen, z.B. dem Kauf eines Produktes, dem Abschluss eines Vertrages) haben neben den erwünschten, beabsichtigten Folgen auch unerwünschte Folgen.“ aus: Gerhard Raab, Fritz Unger: Die Theorie kognitiver Dissonanz. ↵