
Ein sehr schönes Gedicht von Rainer Maria Rilke kann helfen, die eigene Entwicklung zu reflektieren und anzuregen, aber auch besonders, die Entwicklung anderer zu fördern.
Das Gedicht
Über die Geduld
(von Rainer Maria Rilke)
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Quelle: Über die Geduld1 23 4 5
Das Gedicht als Entwicklungs-Symbol
Das Gedicht und der ursprüngliche Brief von Rilke enthält einige Entwicklungs-Impulse, u.a.
- Rilke schreibt als erfahrender Dichter den Brief an seinen jungen Kollegen, der ihn um Rat bittet, unter anderem kommt er mit einem Kritiker nicht zurecht. Er will die Entwicklung des jungen Dichters fördern und dass sein Selbstbewusstsein nicht von den Kritikern zerstört wird. Und da schreibt er ihm, dass nicht die (rationale) Kritik sondern die Liebe die treibende Kraft der Entwicklung und der Kunst ist.
- Rilke sagt seinem jungen Kollegen, er solle dem Gefühl vertrauen, auf das natürliche Wachstum seines inneren Lebens vertrauen und so zu seinen eigenen Urteilen kommen.
- Rilke betont die eigene, stille, ungestörte Entwicklung, ohne Drängen und Beschleunigung: Austragen und gebären, „Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt“
- Diese Entwicklung tief im Inneren ist für den Verstand nicht zugänglich
- Und dazu braucht man Demut und vor allem Geduld: „Geduld ist alles“
- Und es braucht das Aushalten der Ambivalenz des Ungelösten, es sind vor allem die Fragen, die die Entwicklung in Gang halten, nicht die Antworten.
Werfen wir noch einen Blick auf die Geduld, die die Überschrift des Gedichts stellt.
Geduld als Kardinaltugend
Geduld hat in der literarischen Darstellung eine lange Geschichte in den Weisheitslehren der antiken Literatur. Marcus Tullius Cicero fasste sie mit Bezug auf die Stoiker in seinem Werk „Über die Pflichten“ („De officiis“) in vier Tugenden zusammen:
, der sich hier auf ein nicht erhaltenes Werk des Stoikers Panaitios stützte, vertrat die Lehre von den vier Haupttugenden. Er machte die römische Welt mit ihr vertraut. In seiner Schrift De officiis (Über die Pflichten) nennt und erörtert er die vier Tugenden:
- Gerechtigkeit (iustitia),
- Mäßigung (temperantia),
- Tapferkeit und Hochsinn (fortitudo, magnitudo animi bzw. virtus)
- Weisheit oder Klugheit (sapientia bzw. prudentia)
Geduld wäre in diesem Konzept eine Qualität der Mäßigung.
Geduld in der positiven Psychologie
Auch in der positiven Psychologie ist eine der Tugenden „Mäßigung“, der die Charakterstärken Vergebungsbereitschaft, Bescheidenheit, Vorsicht und Selbstregulation zugeordnet sind. Geduld wird nicht explizit als Charakterstärke genannt, kann jedoch als Teil der Selbstregulation angesehen werden. 6
Geduld in Gestalttheoretischen Konzepten
Der Gestalttheoretiker und -Therapeut Wolfgang Metzger vergleicht in seiner „Gestalttheorie des Lebendigen“7 den Unterschied zwischen Arbeiten mit Lebendigem (lebenden Systemen, z. B. Menschen, ) versus Arbeiten mit ‚totem‘ Material (nicht-lebendigen Systemen)
4 Grundsätzen in der Arbeit mit Lebendigem:
1. Die Nicht-Beliebigkeit der Form
Lebendigen Systemen kann nichts auf Dauer gegen ihre Natur aufgezwungen werden.
2. die Gestaltung aus inneren Kräften
Lebendige Systeme können auf Dauer nur in Formen aufrechterhalten werden, die durch Entfaltung ihrer inneren Kräfte entstehen und aufrecht erhalten werden.
3. die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit und
4. die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeit
Die Zeiten und Geschwindigkeiten der Entwicklung lebender Systeme bzw. die Arbeit dieser Systeme kann nicht beliebig verändert, erhöht oder verzögert werden. Sie haben ihren eignen Rhythmus.
„Wer mit lebenden Wesen umgeht, muss also in viel höherem Maß als der Macher geduldig warten können, andererseits aber, wenn der rechte Augenblick heranrückt, ohne Zögern bei der Hand sein.“8
5. die Duldung von Umwegen
Bei der Entwicklung und „Gestaltung“ / Beeinflussung von lebenden Systemen müssen Umwege, die in der Natur der Systeme angelegt sind, in Kauf genommen werden. (z. B. Entwicklungsphasen von Teams)
6. die Wechselseitigkeit des Geschehens
Nicht nur Begleiter*innen, Berater*innen, Leader*innen beeinflussen das lebende System, es gibt auch Rückwirkungen vom System. Z. B. Mitarbeitende beeinflussen auch ihre Führungskräfte.
Bei all diesen Grundsätzen spielt Geduld eine wesentliche Rolle, vor allem bei Nr. 3, 4 und 5.
Zusätzliche Links und Literatur
Gestalttheoretische Prinzipien für Arbeit mit lebenden Systemen
Metzger, Wolfgang (2022): Schöpferische Freiheit. Gestalttheorie des Lebendigen. 3., erneuerte und erweiterte Auflage. Wien: Verlag Wolfgang Krammer. 2022.
Gerhard Stemberger: „Kennzeichen der Arbeit am Lebendigen“ nach Wolfgang Metzger. Aus: dokuwiki.oeagp.at. https://dokuwiki.oeagp.at/doku.php?id=kennzeichen#wechselseitigkeit_des_geschehens. (Lexikon zur Gestalttheoretischen Psychotherapie) (+++)
Wolfgang Metzger: Buchbesprechung: Schöpferische Freiheit. Gestalttheorie des Lebendigen. Wien: Verlag Krammer 2022, dritte Auflage. Aus: Gestalt Theory 44(1-2):201-204. August 2022. DOI:10.2478/gth-2022-0010
Kriz, Jürgen (2001): Grundkonzepte der Psychotherapie. 5. Auflage. Weinheim: PVU. 2001.
Walter, Hans-Jürgen (1984): Gestalttheorie und Psychotherapie. Zur integrativen Anwendung zeitgenössischer Therapieformen. 3. Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1984.
- aus dr-meuck.de: Über die Geduld, Hinweis: Rainer Maria Rilke schrieb „Briefe an einen jungen Dichter„, das ist eine Zusammenstellung der Antworten von Rilke an die (10) Briefe von Franz Xaver Kappus, der Rilke bezüglich seines literarischen Schaffens um Hilfe gebeten hatte. Dieses Gedicht ist eine Umarbeitung von Texten aus dem Brief vom 23. April 1903, geschrieben in Viareggio, einer Stadt in der italienischen Toskana. Es lohnt sich, auch diesen Brief zu lesen. Ob Rilke selbst die Umformulierung vorgenommen hat, ist nicht bekannt. ↵
- Ernestina Sabrina Mazza verwendet dieses Gedicht zur Heilung emotionaler Verletzungen bzw. zur Unterstützung der emotionalen Selbständigkeit. vgl. Ernestina Sabrina Mazza: Der Weg zur emotionalen Selbständigkeit, S. 71 ff. ↵
- Link zu den Gedichten von Rainer Maria Rilke und zu Briefe an einen jungen Dichter ↵
- andere Blog-Beiträge zu diesem Gedicht: Till: Über die Geduld, Heinz Rzehak: Gedichte und Zitate ↵
- Auszüge aus dem dem Brief vom 23. April 1903, von Rilke, aus dem das Gedicht entstanden ist. Rilke bezieht sich in diesem Text auf den Kritiker eines Buches, über das er mit Kappus, einem jungen Nachwuchs-Dichter diskutiert hatte.
„Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie.
Geben Sie jedes Mal sich und Ihrem Gefühl recht, jeder solche Auseinandersetzung, Besprechung oder Einführung gegenüber; sollten Sie doch unrecht haben, so wird das natürliche Wachstum Ihres inneren Lebens Sie langsam und mit der Zeit zu anderen Erkenntnissen führen. Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene stille, ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muss und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewussten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen.
Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts, Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles! „ ↵ - Vgl. VIA-IS ↵
- ↵
- Metzger 2022, S. 16 ↵