Der Erkenntnis-Prozess
Der Soziologe Aaron Antonovsky untersuchte Frauen, die aus dem Konzentrationslager befreit wurden. Ihn interessierte, wie sich ihre Erlebnisse im Konzentrationslager langfristig psychisch auswirkten. Und er fand heraus, dass viele psychisch beeinträchtigt waren. Aber das wunderte ihn wenig. Was ihn wunderte war, dass es auch eine beträchtliche Anzahl an Frauen gab, die die schrecklichen Ereignisse psychisch unbeschadet überstanden hatten. Wie kann es das geben? Und auf diesen Erkenntnissen entwarf er einen Ansatz, den er „Salutogenese“ nannte.
Was ist Salutogenese?
Salutogenese ist der Prozess („Genese“) der psychischen Gesundung, des Gesund-Werdens aus den Auswirkungen (großer) psychischer Belastungen.
Gesundheit ist ein bestimmter Zustand auf einem Kontinuum zwischen sehr schlecht und sehr gut:
- negativer Pol: Zustand, der geprägt ist von „qualvollem emotionalen Schmerz und totaler psychischer Dysfunktion“
- positiver Pol: Zustand, der geprägt ist von „einem vollen, kräftigen Gefühl von psychischem Wohlbefinden (Antonovsky, 1985, S. 274, entnommen aus: Singer, S. 10)
.
In diesem Ansatz der Salutogenese soll erklärt werden, was den Unterschied ausmacht: Was unterscheidet Menschen, die sich nach schweren Belastungen wieder regenerieren von solchen, die das nicht tun. Diese Fähigkeit bzw. den Komplex der Fähigkeiten nannte er „Kohärenz“.
3 Fragen
Die Kohärenzforschung beschäftigt sich mit drei Fragen:
- „Wie und warum werden Menschen krank und wie bleiben sie trotz vieler potentiell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund?“
- „Wie entsteht Gesundheit und wie wird sie gewahrt?“
- „Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremer Belastung nicht krank werden?“1
Was ist die Kohärenz / der Kohärenz-Sinn / das Kohärenz-Gefühl (sense of coherence – SOC)? – Drei Dimensionen der Kohärenz?
Kohärenz ist eine Kompetenz bzw. ein Kompetenzbündel, das es uns ermöglicht bzw. erleichtert, schwierige, belastende Situationen gut zu überstehen (wieder psychisch gesund aus der Situation herauszukommen).
Die Kohärenz-Kompetenz („SOC“ – sense of coherence) besteht nach Antonovsky aus 3 Dimensionen, drei Teil-Kompetenzen: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit2
1. Verstehbarkeit („Comprehensibility“):
Sie beschreibt das Ausmaß, in dem man die Welt und das, was in ihr abläuft, versteht. Menschen mit einem hohen Grad der Verstehbarkeit erleben die Ereignisse als plausibel oder sogar vorsehbar, verständlich und strukturiert
Definition der Verstehbarkeit: „Comprehensibility (Verstehbarkeit) ‚bezieht sich auf das Ausmaß, in welchem man interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrnimmt, als geordnete, konsistente, strukturierte und klare Information, und nicht als Rauschen – chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zufällig und unerklärlich‘ (Antonovsky, 1977, S. 34). Ein Mensch mit einer starken Ausprägung der Verstehbarkeitskomponente wird erleben, dass es Redundanzen im Chaos gibt, dass sich Dinge und Erlebnisse wiederholen. Die Zukunft wird für ihn einigermaßen vorhersehbar. Das gibt ein Gefühl von Sicherheit. Wichtig ist hierbei, dass es um die Einordenbarkeit von Erlebnissen geht, nicht deren Erwünschtheit. Tod, Entbehrungen, Scheitern und so weiter sind leidvolle Erfahrungen, die nicht einfach wegzudenken sind, aber ein Mensch einem starken SOC kann sie sich erklären. In den Interviews zeigte sich, dass einige Personen sich solche Erfahrungen keineswegs erklären konnten. Ihnen ‚passierten‘ die Dinge, sie erlebten sich als Pechvogel, dem immer etwas zustößt, ohne recht zu wissen, wie es dazu kam, und ohne Einfluss darauf nehmen zu können.“3
2. Handhabbarkeit („Managability“)
Handhabbarkeit drückt die Überzeugung aus, dass ich die Herausforderungen des Lebens bewältigen kann. „Ich habe genügend innere und äußere Ressourcen, um die Schwierigkeiten, Probleme Herausforderungen des Lebens gut bewältigen kann. Dieses Merkmal ist dem Persönlichkeitsmerkmal der Selbstwirksamkeit(serwartung) (Albert Bandura) sehr ähnlich.
„Dieser zweite Aspekt wird unter Manageability (Handhabbarkeit) gefasst, formal definiert als ‚das Ausmaß, in dem man wahrnimmt, dass man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen‚ (Antonovsky, 1997, S. 35). Dabei ist nicht von Bedeutung, ob man die Ressourcen selbst unter seiner Kontrolle hat oder ein legitimierter Anderer – als Freunde, Ehepartner, Gott, eine Ärztin, ein Medizinmann oder Parteifunktionäre-, wichtig ist nur, ob man mit diesen Ressourcen sicher rechnen kann. Diese ‚Verantwortungsabgabe‚ an legitimierte Andere unterscheidet Antonovskys Ansatz zum Beispiel von dem des ‚Locus of Control‚.“3
3. Bedeutsamkeit / Sinnhaftigkeit („Meaningfulness“)
Die Sinnhaftigkeit bezieht Antonovsky auf die Arbeiten von Viktor Frankl, dem Begründer der sinnorientierten Psychotherapie. Sie betrifft das Ausmaß, in dem Personen ihr Leben und ihre Lebensbereiche als bedeutsam erleben oder ihnen mit Gleichgültigkeit gegenüberstehen.
„Meaningfulness (Bedeutsamkeit / Sinnhaftigkeit) als Komponente des SOC wurde in seiner Bedeutung erst durch das Auswerten der Interviewprotokolle erkannt. Sie repräsentiert das motivationale Element.
- Diejenigen, die nach Einschätzung der Mitarbeiter Antonovskys einen hohen SOC hatten, berichteten immer wieder über Lebensbereiche, die ihnen am Herzen lagen, die sie wichtig fanden, für die es ‚Sinn mache‘, sich anzustrengen.
- Im Gegensatz dazu erlebten die Personen mit einem schwachen SOC ihr Handeln, ihr Umfeld und so weiter als unwichtig, gleichgültig, belastend, nicht der Mühe wert.
Menschen mit einem hohen SOC sind deshalb nicht weniger unglücklich über den Tod eines geliebten Angehörigen, sie finden ein Examen nicht weniger anstrengend, aber sie können diese Krisen oder Herausforderungen einen Sinn verleihen. Da gibt ihnen die Motivation zur Bewältigung dieser Situationen.“5
Zusammenfassung des Konzepts
Das Modell der Salutogenese („Entstehung der Gesundheit“ als Gegenbegriff zur Pathogenese – Entstehung der Krankheit) in graphischer Darstellung6
„
.
„
Das Modell der Salutogenese in graphischer Darstellung von Florian Krause..
Die Kohärenz-Forschung wird zum Teil als eigenständiger Bereich, zum Teil als Teilbereich der Resilienz-Forschung7 (neben dem Hardiness-Modell von Kobasa) und den Coping-Modellen 8 gesehen.
Messung der Kohärenz / des Sense of Coherence (SOC)
Das zentrale Instrument zur Messung der Kohärenz ist die SOC-Skala mit 29 Items („SOC 29“) mit 3 Subskalen zu den drei Dimensionen. Zu ihm gibt es Kurzfassungen ohne Subskalen mit 13 (SOC-13), 9 (SOC-L9) und weniger Items. Die Kürzeste Fassung hat 3 Items (Lundberg 1997).
- Glaubst du, dass die Dinge die in deinem täglichen Leben passieren schwer zu verstehen sind.
- Findest du gewöhnlich eine Lösung für Probleme und Schwierigkeiten, die andere Personen als hoffnungslos ansehen?
- Fühlst du gewöhnlich, dass dein Leben eine Quelle für dein persönliche Zufriedenheit darstellt.
(übersetzt aus Lundberg, 1997)
“
.
Die Kurzskala SOC-L9 enthält (als Ergebnis der statistischen Auswertung) 2 Items zur Verstehbarkeit, 3 zur Handhabbarkeit und 4 zur Sinnhaftigkeit. Das Übergewicht der Sinnhaftigkeit in dieser Skala entspricht auch der Wertung von Antonovsky.9
Literatur und Links
Salutogenese
Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997.
Susanne Singer, Elmar Brähler: Die „Sense of Coherence-Scale“. Testhandbuch zur deutschen Version. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, Neuausgabe 2014.
o. A.: Salutogenese. Aus: flexikon.doccheck.com. 19. 11. 2018. https://flexikon.doccheck.com/de/Salutogenese.
Resilienz
Bundesministerium für Gesundheit: EU-Projekt zum Thema Resilienz. Internet-Plattform. Fonds Gesundes Österreich. www.resilience-project.eu.
o. A.: Resilienz. Aus: flexikon.doccheck.com. 12. 11. 2013. https://flexikon.doccheck.com/de/Resilienz.
- Aus: o. A.: Salutogenese. ↵
- Vgl. Aaron Antonovsky: Salutogenese. ↵
- aus: Susanne Singer, Elmar Brähler: Die „Sense of Coherence-Scale. , S. 16. ↵
- aus: Susanne Singer, Elmar Brähler: Die „Sense of Coherence-Scale. , S. 16. ↵
- aus: Susanne Singer, Elmar Brähler: Die „Sense of Coherence-Scale. , S. 16 f. ↵
- Aus: Florian Krause: Die drei Dimensionen + Einflussfaktoren zum Kohärenzgefühl nach Antonovsky mit Zitaten von Heiner Keup. 5. 2. 2017. ↵
- Resilienz = Fähigkeit, Krisen und Verluste gut zu bewältigen, bzw. abprallen zu lassen. „resiliere“ (lat.) = abprallen ↵
- Vgl. o. A.: Resilienz. ↵
- Vgl. dazu Susanne Singer, Elmar Brähler: Die „Sense of Coherence-Scale“, S. 28 ↵