Psychologische Familienforschung

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Epigenetik und Schicksal

Unsere Herkunfts-Familien und deren Vorfahren wirken auf unser (äußeres) Leben und unser (inneres) Erleben. Es ist sinnvoll, sie zu erforschen.1 2

Menschen etwa, die im holländischen Hungerwinter 1944 gezeugt wurden, leiden vermehrt unter Stoffwechselstörungen – und ihre Kinder ebenfalls.

Wir existierten zum Teil schon im Körper unserer Großmutter. Das Ei, aus dem wir wurden, bildete sich zwei Generationen vor unserer Geburt“, kommentiert die Amsterdamer Biologin Tessa Roseboom die Ergebnisse der Studie. Die veränderte Schaltung der Gene kann über Generationen weitergegeben werden. Wir sind also mehr als die Summe unserer Gene. Umwelteinflüsse wie Ernährung, Traumata, Krankheit oder unser Lebensstil sind in der Lage, bestimmte Gene ein- oder auszuschalten. Tatsächlich zeigt die Epigenetik, dass selbst subtile Umweltveränderungen auf unser Erbgut zugreifen – die neue Forschung zeigt, dass die Entstehung von Krankheiten oder die Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen epigenetisch beeinflusst sein können – auch wieder in die positive Richtung. „Das ist die Schönheit des Epigenoms“, sagt die Biologin Isabelle Mansuy von der ETH Zürich, „dass es veränderbar ist. Wenn es eine Mutation in den Genen gibt, kann die nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das Epigenom dagegen ist flexibel.“  Aus: Kurt Langbein und Andrea Eder: Was unsere Gene lenkt – Epigenetik und Schicksal.   ]

Neben der Ahnenforschung, der klassischen Genealogie ist es sinnvoll, auch die psychischen und sozialen Strukturen und Prozesse zu erforschen. Sie beeinflussen uns mehr, als wir glauben.

Psychologische Familienforschung

Wie kann man vorgehen? – Überblick in 4 Stufen

Bei der psychologische Erforschung der Familie ist es aus meiner Erfahrung heraus sinnvoll, in vier Schritten vorzugehen.

  1. hard facts in einer Art Stammbaum ermitteln, aufzeichnen, reflektieren, …
  2. Darstellung des Stammbaums als Genogramm („psychologischer Stammbaum“) und Ergänzung um emotionale bzw. Beziehungs-Daten
  3. Erforschung der Muster der Familiendynamik, der Parallelen, Synchronizitäten und vor allem der Familien-Geheimnisse
  4. Verarbeitung der negativen Muster und Einflussfaktoren, z. B. durch Aufstellungen, Skulpturen, therapeutische Interventionen, sozialen Panoramen etc.3

In diesem Blog finden sich Hinweise zum ersten Schritt (in zwei Teil-Schritten).

Schritt 1: Erstellung eines Stammbaums

Stammbaum des Ödipus bzw. der Antigone aus der griechischen Mythologie  (vereinfacht)

Der erste Schritt besteht darin, die Zahlen-Daten-Fakten zu ermitteln und inform eines Stammbaum mit (mindestens) 3 oder 4 Ebenen zu erstellen:

  • Die Ebene der Gegenwartsfamilie: (1 oder 2 Ebenen)
    • Du, dein/e (Ehe-)Partner bzw.  Partnerin, Deine vorigen Partner
    • Deine Kinder / die Kinder deines Partners
  • Die Ebene der Ursprungsfamilie / Herkunftsfamilie (und die deiner Partner)
    • Vater, Mutter, Brüder, Schwestern von dir und deinen Partnern
  • Die Ebene der Großeltern
    • Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits
    • mit all ihren Kindern (Onkeln und Tanten) und Kindeskindern (Cousins und Cousinen)

Dies kann bei größeren und komplexen Familien mit Trennungen / Scheidungen bereits ziemlich komplex werden.

Die Darstellung kann entweder als ‚klassischer Stammbaum‚ erfolgen oder gleich als ‚Genogramm‚, eine Art psychologischer Stammbaum.

Ahnen-Gemälde, hier: Franz von Lenbach mit Frau Lolo und Töchtern Marion und Gabriele, 1903. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München.

Achte bei der Darstellung, darauf,

  • dass bei Partnerschaften die Männer links, die Frauen rechts davon dargestellt werden
  • dass die Reihe der Geschwister in der Altersfolge von links nach rechts dargestellt werden.
  • dass auch die abgetriebenen Kinder, Totgeburten und früh Verstorbenen im Stammbaum bzw. Genogramm enthalten sind. Sie spielen oft im psychologischen Zusammenhang eine wichtige Rolle. Ebenso die ‚großen Lieben‘ und Affären, die nicht zu einer Partnerschaft führten, aber doch von Bedeutung waren
  • Manchmal werden auch Tiere (vor allem Hunde), wenn sie hohe emotionale Bedeutung hatten mit angeführt4

Ergänze Zahlen-Daten-Fakten

  • Namen, incl. Mädchen-Name
  • Geburtsdaten bzw. Alter
  • Sterbedaten (ev. Todesursachen, vor allem, wenn sie ungewöhnlich waren, wie Unfall, Suizid, … )
  • Daten der Vermählung / Trennung / Scheidung
  • ev. außergewöhnlicher Wohnorte, Ortswechsel

Geht man nur bis zur Großeltern-Ebene zurück, so ist meist eine klassische genealogische Forschung nicht notwendig. Eine Dokumenten-Anlayse der Geburts-, Sterbe-, Heirats-Urkunden, … genügt meist.

Schritt 2: Reflexion und Ergänzung,

– incl. Überprüfung und Analyse der Hard Facts

Alte Familienfotos helfen bei der Ahnenforschung

Nun erfolgt

  • eine Ergänzung der Daten, ein Füllen eventueller ‚Datenlöcher‘: z. B.  Namen und Geburtsdaten der ‚Tante in Amerika‘, Todesursachen, …
  • ein Check der Daten, ob sie auch richtig sind und ob man niemand vergessen hat: Häufig ist man unsicher über die Geburtsreihenfolge von Onkeln und Tanten oder weiß nichts von einer Abtreibung …
  • eine Reflexion und Analyse der Daten, wobei man häufig schon erste Erkenntnisse oder Vermutungen oder zusätzliche Fragen gewinnt

Nützlich sind dabei

  • Gespräche mit Personen der Kindheit: Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten, Geschwister, …
  • Durchsehen alter Foto-Alben, Ansehen alter Filme – ev. in Verbindung mit obigen Gesprächen
  • Manche schmücken ihren Stammbaum auch mit Fotos und oder gestalten ihn am Ende künstlerisch aus. Dies kann die emotionlae Ladung der Darstellung wesentlich erhöhen
Auch die Geschwister-Rangfolge ist wichtig

Zusätzliche Hinweise

  • Manchmal werden die Gespräche und das Durchsehen von Fotoalben schon früher durchgeführt – als Vorbereitung zum Erstellen des Stammbaums.
  • Häufig werden alte Erinnerungen an Personen, Begegnungen und Ereignissen aktiviert – nicht selten mit emotionaler Ladung.

Reflexionsfragen zum Stammbaum bzw. Genogramm (hard facts)

  • Wie ist es mir beim Aufstellendes Stammbaums ergangen?
    Hatte ich leichten Zugang zu den Daten oder musste ich sie mir hart erarbeiten?
  • Ist der Stammbaum / das Genogramm relativ einfach und klar oder eher komplex und unübersichtlich?
  • Wo habe oder hatte ich Wissens-Lücken zu den Daten meines Familiensystems?
    Wo habe ich Zweifel über die Richtigkeit der Daten?
    Wenn es Lücken und Zweifel gibt: In welchen Teilsystemen meines Familiensystems sie sie aufgetreten (Großeltern, Vater- oder der Mutter-Linie.
  • Sind im Laufe des Prozesses Gefühle / Emotionen / Stimmungen aufgekommen? Wenn ja, welcher Art waren sie?
  • Sind Erinnerungen an Personen, Begegnungen, Ereignissen hochgekommen, die schon lange aus dem Bewusstsein verschwunden waren.
  • Hat mich irgendetwas erstaunt oder überrascht?
  • Wie viel Kontakt (und Wissen) habe ich zur Vaterseite meiner Verwandtschaft? Wie viel zur Mutterseite?
  • Wenn ich auch die Schwieger-Familie erforscht habe, wie ist es mir dabei ergangen? Wer hat mir dabei besonders geholfen?
  • Wo möchte ich noch mehr wissen, mehr erfahren?
  • Wenn ich Gespräche mit Verwandten über mein Familien-System geführt habe oder andere Forschungsaktivitäten durchgeführt habe: Wie ist es mir ergangen? Wie offen waren die Gespräche? Wie viel habe ich erfahren? Was war neu für mich? Welche zusätzlichen Fragen sind aufgetaucht?

Querverweise

Literatur und Weblinks

Familienforschung generell
Epigenetik
  1.   Aus der Epigenetik wissen wir, dass unsere Verhalten und Erleben nicht nur von den Genen sondern vor allem von der Art, „wie wir auf diesen Genen spielen“ beeinflusst wird und dass wir dies auch weitergeben. Wie unsere Vorfahren gelebt haben, was sie gegessen haben, ob sie gehungert haben, welche Traumata sie erlebt haben, haben sie an uns weitergegeben. Aber wir können es wieder ändern. Und das ist auch eine Stück Lebens-Aufgabe von uns, damit wir das Schädliche nicht an unsere Nachfahren weitergeben.
  2.   Einige Aussagen zur Epigenetik:

    „Wir dachten bis vor 20 Jahren, dass die Information in den Genen liegt. Und seit Kurzem wissen wir, dass sie wie ein Lichtschalter angeschaltet und abgeschaltet werden“, weiß Prof. Matthias Beck um den Zerfall eines Dogmas der Naturwissenschaft. „Das ist wie beim Klavier. Sie haben eine Tastatur, das wären die Gene, das ist die Grundinformation, aber jetzt muss einer drauf spielen. Also wenn Sie wollen: Die Epigenetik ist der Spieler auf den Tasten der Genetik“.  …Aus: Kurt Langbein und Andrea Eder: Was unsere Gene lenkt – Epigenetik und Schicksal

  3.   Zum sozialen Panorama vgl. z. B. Lucas A. C. Derks: Familiensysteme im Sozialen Panorama, 1997  
  4.   Das ist allerdings umstritten

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