Was ist eine Intervention?
Eine Intervention (lat. intervenire … dazwischen kommen)1 ist ein Eingriff mit der Absicht, etwas zu verändern, etwas Negatives ins Positive zu drehen (oder auch umgekehrt, je nach Absicht). Ich interveniere, weil etwas schiefläuft, weil ich ein Problem lösen will, weil ich die Gefahr sehe, dass eine Situation eskaliert. Eine ’normale‘ Intervention setzt dem unbefriedigenden Zustand eine Aktion mit entgegengesetzter Energie dagegen. Z. B.: Ich will nicht, dass du deine Termine nicht einhältst und immer zu spät kommst, deshalb interveniere ich und erinnere ich dich häufiger an deine Termine, damit du sie nicht aus den Augen verlierst Oder ich halte dir die negativen Konsequenzen von Verspätungen vor Augen, mache dir Vorwürfe, wenn es wieder passiert, usw.
Das klingt für viele vernünftig, hat jedoch auch negative Konsequenzen. Abgesehen von den negativen Wirkungen von Vorwürfen2 entsteht im Anderen die Einstellung: „Ich brauche mich um die Termine nicht zu kümmern, ich werde eh mehrmals daran erinnert und reagiere erst, wenn es wirklich notwendig ist.“ Er oder sie delegiert Verantwortung, vielleicht, ohne dass es ihm oder ihr bewusst ist. Damit gehen die Interventionen eigentlich in die falsche Richtung.
Was ist eine paradoxe Intervention?
Eine andere Art von Interventionen geht in die Richtung, die ich vor allem bei Gerda Boyesen, meiner zentralen Therapie-Lehrerin erlebt habe. Eine ihrer Botschaften war: „Geh mit der Energie des Klienten.“ Diese Botschaft, mit der Energie des Gegenübers zu gehen und nicht dagegen anzukämpfen, wenn du etwas verändern willst, liegt auch der paradoxen Intervention zugrunde.
Die klassische Form der paradoxen Intervention ist die Symptomverschreibung:3
„Verschreibe dem Klienten sein Symptom“ könnte man die paradoxe Intervention in Kurzform beschreiben.
- Hält der Klient die Nähe von anderen Menschen nicht aus, so verbiete ihm, anderen Menschen nahe zu kommen.
- Hält deine Klientin die Distanz zu anderen Menschen nicht aus, so verbiete ihr die Distanz und verordne ihr maximale Nähe.
- Zeigt dein Klient ein Symptom, so lass ihm das Symptom absichtlich noch häufiger zeigen.
Anleitung:4
- Analyse des dysfunktionalen Verhaltens, z. B. Extreme Distanz zu anderen Menschen.
- Verordne es durch Übertreibung, z. B. Klient soll 2 Wochen keinen Menschen treffen.
- Integration: Unterstützung bei der Entwicklung / Rückkehr zu funktionalen / zumindest weniger dysfunktionalen Verhaltensweisen.
Paradoxe Intention
Die Wurzeln der paradoxen Intervention gehen auf Viktor Frankl und seine Logotherapie zurück. Er nannte seine Strategie „Paradoxe Intention„. Als Leiter der neurologischen Station des Rothschild-Spitals in Wien
- heilte er Stottern, indem er die Patienten absichtlich noch mehr stottern ließ5.
- Bei Zwangsneurosen verschrieb er den Patienten Zwangshandlungen. Er verordnete den Patienten mit Waschzwängen häufigeres regelmäßiges Waschen.
Dadurch erlebten die Patienten, dass sie Kontrolle über die Zwangshandlungen bekamen, wenn auch vorerst in die falsche Richtung. Sie konnten diese Handlungen geplant durchführen und wurden nicht mehr von ihren Zwängen getrieben. Dies war ein erster wichtiger Schritt im Erleben der Patienten: „Ich kann diese Handlungen beeinflussen, bin ihnen nicht ausgeliefert.“
Paradoxe Intention anwenden heißt, mit Vorsätzen zu arbeiten, die das Gegenteil dessen beinhalten, man sich so sehnlich wünscht.6
- Ich kann mich nicht entspannen, also versuche ich absichtlich die Anspannung aufrecht zu erhalten.
- Ich werde häufig von Angstgefühlen überwältigt. Also versuche ich den Zustand absichtlich lange aufrecht zu erhalten.
- Ich werde leicht wütend, also nehme ich mir vor, beim nächsten Mal den wütenden Zustand in mir möglichst lang aufrecht zu erhalten.
Dadurch nimmt die Erwartungs-Angst, die Angst, dass dieser Zustand wieder eintritt und mich beeinträchtigt, ab. Damit kann ich mich authentischer verhalten und versuche nicht, meine inneren Impulse zu unterdrücken. Zudem kommt häufig bei paradoxen Absichten ein Schuss Humor ins Spiel, der den ‚Heilungsprozess‘ verstärkt.7 8
Liebe 360° – Der Kuss als paradoxe Intervention
Im Theaterstück „Liebe 360°“, von Stefan Vögel 9 wird von einem befreundeten Therapeuten einer Familie der Kuss als therapeutische, paradoxe Intervention angewandt.
In dieser ‚psychologischen Komödie‘ besucht der angeblich schwule Therapeut Adrian nach 20 Jahren seine Jugendfreundin Hanne. Ihre Ehe mit Daniel vegetiert dahin, steckt in der Krise. Die Beziehungen sind erkältet, die Ehepartner zeigen kein Interesse mehr aneinander, auch die Tochter ist vom Familienklima frustriert und plant mit ihrem „Gerade-Wieder-Freund“10 einen Paris Urlaub. Aber auch Adrian steckt in der Krise: Sein geliebter Freund hat ihn verlassen, einen anderen gefunden.11
In einem Gespräch mit dem vermeintlich gefühls-kalten Daniel küsst Adrian ihn, was ihn völlig verwirrt. Aber er wehrt sich nicht, lässt es geschehen. Das setzt eine Kettenreaktion in Gang. Später küsst Hanne ihren Jugendfreund und dieser die Tochter. Als dieses offenbar wird, kommt es zu großen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten in der Familie, in deren Verlauf sich jedoch die Familie wieder vereint und sich gegen den Therapeuten stellt.
Die starren Familienstrukturen wurden aufweicht („Früher war alles so schön geordnet.“). Als Adrian der Familie mitteilt, dass er nach Hause fährt, weil sein Freund zu ihm zurückgekehrt ist, liegt sich die Familie in den Armen. Adrian, der Therapeut, ist der Böse, aber die Familie ist wieder in Takt, die Intervention ist gelungen.
Erst im Nachspann erfährt man in einem Telefongespräch von Adrian an seine Assistentin, dass er jetzt, nach der paradoxen Intervention wieder nach Hause fährt, dass sie aber nichts verrechnen soll, weil er mit der Familie befreundet ist. Damit wird klar, die Intervention ist nicht „passiert“, sondern wurde bewusst gesetzt.
Analogien aus der Praxis
Ähnliche Erfahrungen können manche Mediatoren / Konflikt-Moderatoren berichten, wenn sie z. B. versuchen, einen „kalten“ unlösbaren Konflikt aufzuwärmen, indem sie beide Streit-Parteien gegen sich aufbringen. Die gemeinsame Anstrengung, den lästigen Mediator loszuwerden, vereint die beiden Parteien, der Konflikt ist gelöst. („Intervention gelungen, Mediator tot.“ – könnte das Motto dafür sein.)
Querverweise
Konflikt-Moderation und Konflikt-Gespräch – zuerst heiß, dann cool.
Links und Literatur
Lehrbücher, Beiträge, Reviews
Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Paul Zsolnay Verlag. 2005.
Auch in: Viktor Frankl: Gesammelte Werke. Band 4. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2011, (Kapitel: „Die logotherapeutische Technik der paradoxen Interpretation“, S. 494 – 511)
Viktor E. Frankl: (1975): Paradoxical intention and dereflection. Psychotherapy: Theory, Research & Practice, 12(3), 226-237. http://dx.doi.org/10.1037/h0086434
Stefan E. Schulenberg et. al.: Logotherapy for clinical practice. In Psychotherapy Theory Research & Practice 45(4):447-63, December 2008. https://www.researchgate.net/publication/51831824_Logotherapy_for_clinical_practice. (voller Text)
DeBord, J. B. (1989). Paradoxical interventions: A review of the recent literature. Journal of Counseling & Development, 67(7), 394–398. https://psycnet.apa.org/record/1989-26769-001. http://dx.doi.org/10.1002/j.1556-6676.1989.tb02099.x
Leon F. Seltzer (1986). Paradoxical strategies in psychotherapy: A comprehensive overview and guidebook. John Wiley & Sons.
Shoham, V., & Rohrbaugh, M.J. (2001). Paradoxical Intervention. In W. Edward Craighead & C.B. Nemeroff (Eds.), The Corsini Encyclopedia of Psychology and Behavioral Science, Vol. III, 3rd edition (pp. 1129–1132). New York: Wiley & Sons.
Paradoxe Intervention, Paradoxe Intention (Logotherapie)
Alfred Längle: Im Bann der Angst. Das versteckte Wirkprinzip der Paradoxen Intention von V. Frankl. In: Existenzanalyse 20, 2, 4-11
Karl Hosang: Paradoxe Intervention. Aus: https://karlhosang.de/paradoxe-intervention-anleitung/. https://karlhosang.de/paradoxe-intervention-anleitung/.
Karl Hosang: Utilisation. Aus: https://karlhosang.de/paradoxe-intervention-anleitung/.
Hinweise, Links und Literatur zum (Re-)Framing finden sich auch in den Beiträgen zum Abilene Paradoxon, zum Perspektiven-Wechsel, zu Lösungen, zur ‚Map‚ und zur Paradoxen Intervention, auch zu Geschwister-Konstellationen.
- weitere Hinweise im Beitrag zum Framing.
Humor
Daniel Putz, Katharina Breuer (2017): The stress-reducing effect of employee‘s and supervisor‘s positive humor at work. Wirtschaftspsychologie, 19 (3), 39-50
o. A.: Humor als Ressource bei der Bewältigung von Arbeitsbelastungen. Aus wirtschaftspsychologie-aktuell.de. https://www.wirtschaftspsychologie-aktuell.de/nachrichten/nachrichten-20181023-humor-als-ressource-bei-der-bewaeltigung-von-arbeitsbelastungen.html
Negatives Üben
P. C. Duker, M. Nielen: The use of negative practice for the control of pica behavior. In: Journal of Behavior and Experimental Psychiatry, Band 24(3), 1993, S. 249–253. http://dx.doi.org/10.1016/0005-7916(93)90028-U
- Vgl. auch den Beitrag zu Sozialinterventionen im Unternehmen. ↵
- Zu den Vorwürfen vgl. den Beitrag Kommunikations-Sünden ↵
- eine alternative Form der paradoxen Intervention ist die Utilisation: Das Entdecken versteckter Ressourcen / Potenziale im dysfunktionalen Verhalten. Vgl. Karl Hosang: Utilisation. ↵
- Aus: Karl Hosang: Paradoxe Intervention. Utilisation geht davon aus, dass häufig in dysfunktionalen Verhaltensweisen und Schwächen wertvolle Ressourcen versteckt sind. Es gilt sie zu entdecken und so das Verhalten umzudeuten. (vgl. Reframing.) ↵
- Vgl. dazu den Film: The King’s Speech ↵
- Vgl. o. A.: Strategie: Paradoxe Intention. ↵
- Vgl. Daniel Putz, Katharina Breuer (2017): The stress-reducing effect of employee‘s and supervisor‘s positive humor at work. Wirtschaftspsychologie, 19 (3), 39-50. o. A.: Humor als Ressource bei der Bewältigung von Arbeitsbelastungen. ↵
- Der paradoxen Intervention ähnlich ist das „Negative Üben“ in der Verhaltenstherapie. Durch Negatives Üben versucht man, gewohnheitsmäßiges problematisches Verhalten abzugewöhnen bzw. diese Verhaltensgewohnheit zu mildern. Dazu wird das unerwünschte Verhalten nicht verboten, sondern so massiv auferlegt, dass die Person das Verhalten schließlich aufgibt, weil sie davon ermüdet ist. – Vgl. z. B. P. C. Duker, M. Nielen: The use of negative practice for the control of pica behavior. ↵
- Das Stück wurde im Herbst 2019 im Premieren-Theater ‚Freie Bühne Wien‚ uraufgeführt – mit Michaela Ehrenstein, Felix Kurmayer, Markus Schramm und Resi Müller, Regie: Luzia Nistler ↵
- Bezeichnung im Programm ↵
- Ob das wirklich so ist, oder ob das bloß zur paradoxen Intervention gehört, bleibt offen. ↵