Antwort: JA!
Zahlreiche Führungskräfte (FK) sind der Meinung, strategische Aufgaben sind nur etwas für die Geschäftsführung (GF) und möglicherweise eine Ebene darunter, aber keineswegs für die unterste Ebene (First-Line-Manager, Teamleiter, Filialleiter, Referats- und Dezernatsleiter, Fachbereichsleiter, …).
Aber: Jede Führungskraft ist verantwortlich für ihren Führungsbereich (z. B. Abteilung, Servicebereich, Referat, Dezernat, Fachbereich, …). Und Verantwortung für einen Bereich zu übernehmen, bedeutet, neben kurzfristig operativen (Management-)Aufgaben und Aufgaben der Menschführung auch: grundsätzliche, langfristig-strategische und konzeptive / konzeptionelle Überlegungen anzustellen. Strategische bzw. konzeptionelle Überlegungen braucht die FK beispielsweise, …
- um den eigenen Bereich in das Gesamtsystem des Unternehmens einzupassen, bzw. die Strategien des eigenen Bereichs an die Gesamtstrategie des Unternehmens anzukoppeln
- die Mitarbeiter:innen (MA) strategisch auszurichten (auf die Gesamtstrategien des eigenen Bereichs / der Abteilung),
- die Beziehung zu übergeordneten Stellen zu optimieren
- die eigene Führungswirksamkeit zu verbessern (z. B. die eigene Akzeptanz gegenüber den MA zu erhöhen).
Bereiche für strategische Aufgaben
In welchen Bereichen sollte die Führungskraft strategische Überlegungen anstellen?
a) Ankoppeln an die Unternehmensstrategie
Jede Führungskraft hat die Aufgabe den eigenen Bereich an der Unternehmensstrategie auszurichten, unabhängig davon ob das von oben verlangt wird oder nicht. Eine Unternehmensstrategie kann nur dann ihre volle Wirkung erreichen, wenn alle Unternehmensbereiche „am gleichen Strang ziehen“. Das erfordert eine Synchronisierung der globalen mit den Bereichs-Strategien. Für alle produktions- und vertriebs-nahen Bereiche (den Primäraktivitäten – Leistungskette, value chain in der Wertschöpfungskette von Michael E. Porter) ist das selbstverständlich, es gilt jedoch auch für Bereiche, die nicht unmittelbar damit zusammenhängen, sondern die Primäraktivitäten unterstützen, z. B. Servicebereiche, Finanzabteilungen, Personalabteilungen, Forschung & Entwicklung usw.)
b) Strategie für das eigene Team?
Gemeint ist hier das Team insgesamt und die einzelnen Teammitglieder (direct reports, Mitarbeiter*innen, …).
Die Führungskraft sollte Strategien entwickeln um aus den MA ein echtes, schlagkräftiges Team zu formen.
Wie gut ist mein Team? Ist es ein echtes, vernetztes Team, in dem die MA sich nahestehen und gegenseitig informieren und unterstützen? Oder laufen die Interaktionen und Kommunikationskanäle alle zu mir? Wie gut ist das eigene Team aufgestellt. Habe ich die MA, die ich brauche? Haben die Teammitglieder die Kompetenzen, die sie brauchen? Was habe ich mit meinen MA vor? Wohin sollen sie sich mittel- und langfristig entwickeln?
c) Strategie für den eigenen Führungsbereich?
Ein zentraler Strategiebereich ist auch der eigene Führungsbereich, d. h. die organisatorische Einheit (OE), die die FK führt, ein Element des Organigramms, z. B. die eigene Abteilung. Welchen Ruf hat sie? Wieviel Wertschätzung (oder Abwertung) erfahren wir? Mit welcher Aufstellung, welchem „Geschäftsmodell“ möchte ich meinen Bereich zum Erfolg führen? Welche strategischen Ziele verfolge ich mit meiner Abteilung? Wo wollen wir in 3 Jahren stehen? Wie kann ich den Wert meines Bereichs erhöhen? Worauf soll ich mich vorbereiten? Was sind unsere Stärken und Schwächen? …
d) Strategie für zentrale Stakeholder?
Der gute Umgang mit ihren Stakeholdern ist ein zentraler Faktor für den Führungserfolg jeder Führungskraft. Misserfolg tritt häufig ein, wenn sich eine FK ausschließlich oder schwerpunktmäßig auf fachliche Aufgaben konzentriert und sich nicht um die Erwartungen und Forderungen der Stakeholder kümmert. Zentrale Personen sind meist der (direkte Chef / die Chefin und die MA. (MA wurde bereits oben behandelt.) Weitere Stakeholder sind z. B. die GF, die Kolleg*innen, Schnittstellen, auch externe Stellen, wie Kunden, Lieferanten, ev. auch Politiker, …
Problem ist häufig, dass die Erwartungen nicht erfragt werden. Erhebung der Erwartungen ist wesentlicher Teil des Erwartungs-Managements. Es lohnt sich, sie zu erheben zu analysieren und Strategien zu entwickeln, um sie zentralen Stakeholder „bei Laune zu halten“. Stakeholder-Mapping ist ein Instrument zur Analyse der Beziehungen zu Stakeholder.
Auch können Stakeholder mit einer 2×2-Matrix analysiert werden. Die Dimensionen sind z. B.,
- welchen Einfluss sie haben und
- wie hoch ihre Interessen sind (am Produkt, am Prozess, an den Personen incl. mir). Entsprechend unterscheidet man Promotoren +/+, Zuschauer / Publikum -/-, Latente +/- (wenig Einfluss), Verteidiger -/+ (wenig Interesse).
Eine interessante Terminologie fand ich in einem Produktionsunternehmen. Dort sprach man von „James-Bond-Stakeholdern“: Identifiziere die Personen, die für dich die Lizenz zum Töten haben: Wer hat so großen Einfluss in der Organisation, dass er dir als Führungskraft das Leben sehr schwer machen kann: so schwer, dass du den Posten räumen musst („organisatorischer Tod“).
e) Strategien für sich selbst (als FK) und für die Work-Life-Balance
Um gut aufgestellt zu sein, braucht die FK auch Strategien für sich selbst. z. B. Strategien zur eigenen Führungstätigkeit: Wie gewinne ich Akzeptanz bei meinen MA? Wie kann ich meine Persönlichkeit entwickeln, um mehr Wirksamkeit in meinem Führungsalltag gewinnen zu können? Wie kann ich meine Führungsrollen so gestalten, dass sie mir auch sowohl Sinn als auch Spaß und Freude macht? …
Und die Führungskraft braucht auch Strategien, um ihre beruflichen und privaten Bereiche in Balance zu halten, z. B. berufliche Tätigkeit so zu gestalten, damit auch genügend Platz für die eigene Familie, ihre Freunde und andere wichtige private Bereiche zu haben.
Zusätzlich ist es wichtig, auch Strategien für die eigene körperliche und psychische Fitness zu entwickeln. Es nützt auch dem Unternehmen nichts, wenn sich die Führungskraft voll für das Unternehmen einsetzt und dabei in eine Burnout-Symptomatik gerät. Das ist auch für das Unternehmen langfristig schädlich.
Zeit für strategische Führung
Führungskräfte beklagen häufig, dass sie keine Zeit für strategische Fragen haben. Das ist zwar verständlich, aber nur eine von mehreren Perspektiven, wie man die Dinge sehen kann.
Aus der Vogelperspektive betrachtet ist das eine falsche Prioritätensetzung. Führung ist keine Nebentätigkeit, keine Tätigkeit die man nur dann macht, wenn Zeit bleibt. Führung ist ein zentraler Punkt, vor allem wenn man bedenkt, dass Führung einen multiplikativen Effekt hat („Der Multiplikaktoreffekt der Führung„). Daher ist es eine zentrale Aufgabe jeder Führungskraft, sich von operativen Aufgaben zu entlasten, um Zeit für Führung zu haben. Sonst ist die Bezeichnung „Führungskraft“ nicht passend und man degradiert sich besten falls zu einem ‚Verwalter‘. Somit sollte die eigene Entlastung von operativen Aufgaben ein Dauerposten für die eigene konzeptive Führungsaufgabe sein.
Dazu kommt, dass strategische Führung nicht von selbst im Zeitplaner der Führungskraft steht. Man muss strategische Zeit ohne Dringlichkeit in den Zeitplaner stellen. Das erfordert Selbstdisziplin und ein gutes Zeitmanagement.
Ist Bewusstsein für die Notwendigkeit von strategischer Führung erkannt, stellen sich viele Führungskräfte die Frage, wie viel Zeit sie für strategische Führung einplanen sollen? Das hängt natürlich von verschiedenen Punkten ab:
- von der Art der Tätigkeit,
- der Art und Größe der Organisationseinheit (Abteilung, …),
- der Branche und vor allem
- der hierarchischen Position.
Während für das Top Management ein Wert von deutlich über 50% angemessen sein kann ist für die unterste Hierarchieebene (Lower Management, First-Line-Management) 5% ausreichend sein. Weit darunter sollte sie meiner Meinung nach nicht sein. Aber selbst dieser niedrige Wert bedeutet, dass wöchentlich mindestens 2 Stunden einzuplanen sind, oder 14-tägig ein Halbtag.
Was passiert, wenn strategische Führung nicht stattfindet
Strategisch zu führen bedeutet auch und vor allem, sich den wichtigen Dingen zu widmen. Im Führungsalltag sind Führungskräfte jedoch von den dringenden Dingen dominiert. Aus dem Zeitmanagement wissen wir, dass man davon ausgehen muss, dass nur ein Teil der Arbeitszeit für geplante Tätigkeiten übrigbleibt. Ein Großteil „muss“ für Tätigkeiten verwendet werden, die ad hoc anstehen und dringend werden. Viele Zeitplanungs-Systeme sprechen davon, dass nur 40 % der Zeit für geplante Dinge verwendet werden können.
Mit anderen Worten, Führungskräften müssen „Feuerwehr“ spielen,2 sie müssen sich dem widmen, was gerade dringend ist, sie müssen dorthin, wo es brennt, wo gerade Schwierigkeiten entstanden sind, wo gerade etwas total wichtig geworden ist, weil z. B. ein dringlicher Auftrag vom Vorstand mit dem Vermerk „höchste Dringlichkeit“ eingetroffen ist, z. B., wenn ein Konflikt eskaliert ist, eine Beschwerde eines wichtigen Kunden akut geworden ist … Das lässt sich auch nicht vollkommen vermeiden. Wie hoch aber der Anteil der ungeplanten Arbeiten ist, hängt in beträchtlichem Ausmaß von der strategischen Arbeit ab. Was konnte schon vorhergesehen werden? Worauf hätte man vorbereitet sein müssen. Welche „Unvorhersehbarkeiten“ kommen regelmäßig vor? Wo gab es schon „schwache Signale“ die nicht erkannt oder nicht beachtet wurden? All das sind auch Punkte für die strategische Führung.
Man kann also zusammenfassen. Je weniger strategische Führung und Planung stattfinden, desto höher ist die Gefahr für Führungskräfte, ständig Feuerwehr spielen zu müssen, desto mehr muss man sich dringlichen Dingen widmen. Stephen Covey spricht dann vom „Dringlichkeitswahn„3. Führungskräfte sollten sich fragen, wie sehr sie vom Dringlichkeitswahn betroffen sind: ob die dringlichen Aufgaben vor den wichtigen Vorrang haben…
Ich erlebe oft Führungskräfte, die sogar stolz sind, dass sie oft Feuerwehr spielen, dass sie Brände gelöscht haben, das gibt ihnen ein Gefühl Erfolg zu haben, unabkömmlich zu sein, die Heroen-Rolle zu spielen („We are the heroes“). Sie erzählen dann stolz, wenn sie zu einem Coaching-Gespräch am Abend kommen: „Heute bin ich wieder zu gar nichts gekommen, nichts von dem, was ich mir vorgenommen habe, wurde realisiert. Ich habe ständig Probleme rasch lösen, Schwierigkeiten beseitigen, Brände löschen, Konflikte beruhigen, Beschwerden bearbeiten, … müssen.“ Das gibt ihnen das Gefühl, wichtig zu sein, ihr Geld wert zu sein und etwas geleistet zu haben.
Häufig zeigt sich jedoch, dass ein Großteil dieser Probleme durch fehlende strategische Führung entstanden sind. Zar ist es auch eine wichtige Kompetenz der Führungskräfte wichtige und dringende Probleme rasch zu lösen und betriebliche „Brände“ rasch löschen zu können. In Summe ist jedoch
- die ruhigere Form der strategischen Führung,
- des Vorbereitet-Seins,
- der Beseitigung der Probleme bevor sie akut werden,
- des Blicks auf die wichtigen Dinge …
wesentlich effizienter, wenn auch nicht so spektakulär.
Wichtiges soll nicht dringend werden
Die Wichtigkeit strategischer Orientierung zeigt sich auch im „modernen Zeit- bzw. Selbst-Management“.
Im klassischen Zeitmanagement sortierte man die Aufgaben nach Dringlichkeit und Wichtigkeit in 4 Quadranten („Eisenhower-Matrix„). Eine zentrale Aussage dazu war sinngemäß: „Widme dich vor allem den Quadrant 1, d. h. den Aufgaben die sowohl wichtig als auch dringend sind.“
Demgegenüber gilt im „QII-Management“ von Stephen Covey:3. Zentral ist Quadrant 2, er entspricht dem Grundsatz: „Wichtiges soll nicht dringend werden.“ Wird Q2 vernachlässigt, so werden viele wichtige Dinge auch dringend, es entstehen unnötiger Stress, schlechte Lösungen und chaotische Zustände.
Querverweise
Die 2×2-Matrix – ein Tool für Führungskräfte.
Checklist: Fragen für strategische Führung für Teamleiter.
Literatur und Links
Eisenhower-Prinzip / Eisenhower-Matrix / Covey Q2-Management
Dwight D. Eisenhower: „204 – Address at the Second Assembly of the World Council of Churches, Evanston, Illinois. August 19, 1954″. https://web.archive.org/web/20150402111315/http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=9991.
Stephen Covey, Roger and Rebecca Merrill, Alexandra Altmann: Der Weg zum Wesentlichen. Der Klassiker des Zeitmanagements. Campus. 7. Auflage. 2014. (engl.: First Things First. Mango Media Inc. 2015. – ohne Altmann- 1993. 1-1989).
Stephen Covey: Die sieben Wege zur Effektivität. Gabal. 2018. (engl.: The Seven Habits of Highly Effective People. Powerful lessons in personal change. Simon & Schuster. 2013).
- Weitere Literaturhinwiese in Die 2×2-Matrix – ein Tool für Führungskräfte.
Stakeholder
o. A.: Erstellen Sie eine Stakeholder-Map, um Ihre Stakeholder zu identifizieren und wie Sie sie in die Erstellung wertvoller Produkte einbeziehen. Aus: ichi.pro/de. https://ichi.pro/de/so-finden-sie-ihre-stakeholder-253821555238312.
- Das Bild zeigt identifizierbare Personen in der Umgebung des Königs Philipp IV von Spanien. Im Mittelpunkt steht die Königstochter Margarita und in 2 Spiegeln sieht man jeweils den Maler bzw. das spanische Königspaar. Das Bild war Teil der Strategie des Malers, die spanischen Steuerbehörden zu überzeugen, seine Bilder als steuerfreie Kunst einzustufen und nicht, wie bis dahin üblich als steuerpflichtiges Handwerk: „Was in Gegenwart des Königs gemalt wird, ist Kunst.“ Vgl. o.A. Las Meninas. ↵
- Vgl. den Beitrag Was Führungskräfte wirklich tun. ↵
- Vgl. Stephen Covey, Roger and Rebecca Merrill, Alexandra Altmann: Der Weg zum Wesentlichen. Stephen Covey: Die sieben Wege zur Effektivität. ↵
- Vgl. Stephen Covey, Roger and Rebecca Merrill, Alexandra Altmann: Der Weg zum Wesentlichen. Stephen Covey: Die sieben Wege zur Effektivität. ↵