Der vergessene Großvater
In der „Welt“ erschien 2017 eine Buchbesprechung von ‚Eckart Goebel‘ mit dem Titel: „Deshalb schämte sich Goethe für seinen Großvater“2 3. Er geht dabei vor allem auch auf die verdrängten Anteile, die transgenerativen Übertragungen und Familiengeheimnisse von Goethes Familie bzw. Großvater ein und beginnt seinen Artikel mit dem Hinweis auf einen Philosophen: „Ein französischer Philosoph, Gilles Deleuze, hat gemeint, Vati und Mutti seien die Neurose, Opa und Oma jedoch die Psychose. Wenn das stimmt, folgt aus diesem Aperçu, dass wir Phobien und Ticks den Eltern verdanken, die Abgründe aber den Großeltern. Anders gesagt: Alle Probleme, die unsere Eltern mit ihren Eltern nicht durchgearbeitet haben, reichen sie als eine schwarze Murmel an uns weiter, aber so geschickt, dass wir es zunächst nicht bemerken und nicht verstehen, was da Hartes in unserer Seele herumkullert und wehtut.“
Besser kann man es kaum formulieren. Und er fährt fort: „Wir merken es nicht, weil wir meist ein gutes Verhältnis zu unseren Großeltern haben, die oft versuchen, an den Enkeln gutzumachen, was mit den Kindern zuvor misslang. Wir verstehen nicht, was Vati und Mutti gegen ihre Eltern haben, da Opa und Oma uns verwöhnen. Wenn wir jedoch die schwarze Murmel aus dem Kopf entfernen wollen, sollten wir uns ansehen, welche Probleme Vati und Mutti mit ihren Eltern hatten. Deleuze hat erklärt, warum Rotkäppchens Großmutter so große Zähne hat und so ein struppiges Fell.“
Der weiße Fleck in Goethes Stammbaum
Goethes Großvater, Friedrich Georg Göthé wurde von seinem berühmten Enkel nur ein Mal in seinen Schriften erwähnt, und das nicht namentlich. Die väterliche Linie bei den Goethes scheint defekt. Schon J. W. Goethes Vater hatte sich radikal von den Andenken seines Vaters entledigt und ihn gegenüber seinem Sohn kaum erwähnt.“Ich hatte von meinem Großvater wenig reden hören“4 findet sich in den Notizen Goethes. Vater Goethe räumte beispielsweise die Porträts seines Vaters weg, entwarf ein neues Familienwappen, baut das Anwesen radikal um und latinisiert den Namen. Er wird „der weiße Fleck im Stammbaum: Von Göthé zu Goethe“.5
Dabei hätten alle stolz auf Großvater Göthé sein können. Als Sohn eines einfachen Schmieds brachte er es als begnadeter Schneider und späterer Seiden- und Weinhändler zu beträchtlichem Vermögen, von dem Vater Goethe, ein Privatier und Goethe lebenslang zehrten. Er hat beiden ein sorgenfreies Leben ermöglicht. „Aber, der Großvater war seiner Herkunft her eben nur ein Handwerker (und Sohn eines Hufschmieds) und fand deshalb wohl im Denken seines zum kaiserlichen Rat aufgestiegenen Sohnes Johann Caspar wie auch bei seinem Dichterenkel keine erinnerns-werte Aufnahme. Denn deren Leben ruht zwar auf einem Fundament aus Geld und anderen Besitztümern, die Spuren von Herkunft und Aufstieg aber sind verwischt. Es ist, als ob nach dem Hinaufklettern die Leiter hochgezogen wurde, nun geht es nicht mehr abwärts und man sieht nicht mehr und vergisst, wie man hinauf gekommen ist.“ 67
Aber es gab auch eine psychische Hinterlassenschaft, z. B.
- Ihm war von seinem Vater „eine äußerste Abneigung gegen alle Gasthöfe eingeflößt wurden“ (Opa Göthé hatte einen Gasthof – war offensichtlich nicht positiv konnotiert bei Goethes Vater)
- Er übernahm von seinem Vater die zwanghafte Besessenheit für eine Seidenraupenzucht, ein Hobby, das häufig mit pestartigem Geruch verbunden war, wenn viele Tiere krankheitshalber eingegangen waren.
- Eckart Goebel: Deshalb schämte sich Goethe für seinen Großvater ↵
- Eckart Goebel: Deshalb schämte sich Goethe für seinen Großvater ↵
- Es ist die Rezension des Buches „Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater“, eine literaturhistorische Studie von 3 Literatur-Wissenschaftlern, Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Joachim Seng ↵
- Zitate aus Eckart Goebel: Deshalb schämte sich Goethe für seinen Großvater ↵
- Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Joachim Seng: „Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater“ ↵
- Boehnke u.a.: „Monsieur Göthé“ – aus einem podcast des SWR: „Monsieur Göthé“ ↵
- Weitere Hinweise auf Rezensionen des Buches finden sich im ‚perlentaucher‘: Monsieur Göthé ↵