Die Kind-Frau
Frauen haben unterschiedliche weibliche Anteile, die ihre Identität als Frau ausmachen. Eine mögliche Identitäts-Ausprägung entspricht der Kind-Frau.1
Unter einer Kind-Frau wird Verschiedenes verstanden:
- Ein Mädchen, ein Kind, das schon sehr erwachsene, weibliche (körperliche, ev. auch psychisch-emotionale) Züge und Verhaltens-Muster ausgeprägt hat. Nach dem berühmten Roman von Vladimir Nabokov nennt man sie häufig „Lolita„2 Man spricht auch von „frühreifen Mädchen“ oder frau-lichen Kind.
- Eine erwachsene Frau, die deutlich ihre kindlichen Anteile ausgeprägt hat und in ihren Verhaltensweisen zum Ausdruck bringt. Man könnte auch sagen, dass bei dieser Frau das kindliche Ich (das innere Kind) die dominante Rolle übernommen hat. Es ist die kind-liche Frau.
Ich beziehe mich im weiteren auf den zweiten Typ, der erwachsenen Frau mit kindlich-dominanten Anteilen.3
In der Umgangssprache wird von einer „Kind-Frau“4 gesprochen, wenn sie zugleich naiv und unschuldig als auch raffiniert und verführerisch erlebt wird. Häufig ist damit auch verbunden, dass sie im Denken und Handeln noch kindlich-unselbständig erlebt wird. Ebenso wird ihr erotische Attraktivität zugeschrieben, Verführungskünste, die so stark sein können, dass ihr Männer ‚verfallen‘, von ihr abhängig werden.
In der Analytischen Psychologie entspricht der Ausdruck der Kind-Frau einem dahinterstehenden Archetyp, dem Archetyp der Persephone,5 die man aus der griechischen Mythologie kennt. Die Wirkung des Archetyps macht auch verständlich, warum sie so eine starke Wirkung hat und warum sie häufig in Kunst und Kultur anzutreffen ist, vor allem in Literatur und in Filmen.6 Dies wird auch von Jorst-Jürgen Gerigk hervorgehoben: „Dass es Wildes Salome und Nabokovs Lolita zu solcher Prominenz bringen konnten, liegt .. darin begründet, dass in ihnen der Archetypus der Kindfrau ins Bewusstsein gehoben wird.“7
Fall: Die Kind-Frau Christelle in der Lebensmitte
Christelle steht in der Mitte des Lebens. In einem Coaching-Gespräch sagt sie, sie möchte zu sich kommen, sie habe sich selbst noch nicht gefunden und fühle sich sehr unsicher. Jetzt, mit Mitte 40, sei die Zeit dafür reif.
Sie sieht sich selbst als Kindfrau, die Halt braucht und Angst hat, allein zu sein. Sie hat darüber im Internet nachgeforscht, ist dabei auf Kore und Persephone (röm. Proserpina) gestoßen. Das sind die Namen für eine griechischen jungfräulichen Göttin, Tochter der Mutter-Göttin Demeter (röm. Ceres). Persephone ist gleichzeitig ein Archetyp, ein innerer psychischer Anteil, mit dem sich Christelle sehr identifiziert. Als sie über Persephone gelesen hat, war es, als wäre in dieser Mythologie ihre eigene Geschichte erzählt worden.
Christella wuchs bei ihrer Mutter auf. Ihre Eltern trennten sich, als sie noch ein kleines Kind war. Ihr Vater wurde von der Mutter schlecht gemacht, sie redete nur negativ über ihn. Christella sah nur am Wochenende. Er verstarb noch in ihrer Kindheit. Die Mutter hatte wenig Kontakt nach außen. Da sie auch keine FreundInnen hatte wuchs Christelle fast isoliert in einer Zweierbeziehung mit ihrer Mutter aus. Ihre Mutter hatte viele Ängste und hat Christelle überbehütet, „damit ihr nichts passiert“. Sie hatte keinerlei Freiheiten, sollte auch als Teenager nicht ausgehen, keine Freunde treffen, am besten immer zu Hause bleiben. Streng verboten war auch der Alkohol-Konsum, schließlich war ihr Vater Alkoholiker.
Christelle meint, sie selbst war auch immer schon mit Ängsten belastet gewesen, und sie habe diese Ängste von ihrer Mutter übernommen. Angst, Schrecken und Erlösung sind auch Persephone-Themen8
Dann kam Hades. Ihren Hades lernte sie beim Studium kennen. Dieser Mann raubte ihr der Mutter, indem er ihr „die Augen öffnete“ – über die Mutter, die nur ihr eigenes Spiel spielt und ihre Tochter für ihre Interessen benutzt. Mit ihrem sehr starken und selbstbewussten Hades, an den sie sich anlehnen konnte und der ihr viel Sicherheit gab, holte sie das nach, was sie unter der Obhut der Mutter versäumt hatte. Sie führte mit ihm sie ein sehr exzessives Leben mit viel Alkohol. Die Beziehung zu ihrer Mutter verschlechterte sich drastisch. Diese akzeptierte ihren Partner nicht. Über einige Zeit hat sie den Kontakt zu ihrer Mutter ganz abgebrochen. Nach einigen Jahren war die Beziehung zu ihrem Hades zu Ende, sie sah ihn nur mehr als (älteren) Bruder, nicht mehr als Mann. Außerdem stimmten viele Lebensumstände nicht mehr, er verließ nur mehr selten das Haus.
Durch Fremdgehen lernt sie ihren neuen Partner kennen, zu dem sie übergangslos zog – für nur wenige Jahre. Bei ihm (und seiner „Uranus-Natur“) lernte sie die Freiheit kennen und was es heißt, in Freiheit miteinander zu leben. Da er sie auch zu Extremsportarten inspirierte, lernte sie auch, diese Ängste zu überwinden. Aber sie vergingen nicht.
Christelle war jetzt in einem Alter, in dem sie die Entscheidung für ein Kind nicht mehr lange aufschieben konnte. Mit ihrem Partner war das nicht möglich. Er wollte das nicht.
Ein neuer Mann trat in ihr Leben – auch über Fremdgehen. Waren alle bisherigen Männer auch ältere Vaterfiguren für Christella, so war dieser Mann sehr viel älter. Aber sie war verliebt und es gelang ihr vor allem, ihn zu einem Kind zu überreden. Aber nach der Geburt kamen wieder Zweifel auf – über ihr Leben und ihre Partnerschaft. Sie wollte nicht wie geplant heiraten und sie wollte auch das alleinige Sorgerecht für ihr Kind. Und er war „sehr materiell orientiert“, enorm sparsam, man könnte auch sagen geizig. De facto sorgt sie allein für das Kind. Das brachte Spannungen in die Beziehung mit sexuellem Rückzug von ihr und das führte zu einer Trennung innerhalb des Hauses.
Das ist der aktuelle Stand. Nicht erwähnt wurde, dass Cristella wieder verliebt ist – in einen vergebenen Mann. Sie weiß nicht, wohin das führen wird. Sie sagt, das ist der erste Mann, der sie so akzeptiert, wie sie ist – mit allen Ecken und Kanten. Er akzeptiert sie, wie sie ist, sie aber kann sich selbst nicht akzeptieren. Ständig hat sie Selbst-Zweifel, sie kann nicht genießen und nicht authentisch leben, denn: „Ich bin nicht bei mir, ich kann nicht bei mir sein, ich spiele ständig eine Rolle.“ Es ist etwas in ihr zugeschüttet, meint sie.
Früher hat sie das nicht so gestört, aber jetzt (in der Mitte des Lebens) ist ihr das wichtig.
Erst-Intervention
Als erste Intervention versucht Christella Kontakt den Anteil in ihr aufzusuchen, der verschüttet ist, der ihre Selbstzweifel nährt. Das gelingt ihr und sie visualisiert es als dreijähriges kleines Mädchen, das im Sand verschüttet ist. In ihrem Bild tritt das kleine Mädchen aus dem Sand heraus.
Dabei fällt ihr ein Foto ein, das sie entdeckt hat. Auf diesem Foto läuft sie als kleines Mädchen aus einem dunklen Raum, in dem sich ihre Oma aufhält. Sie läuft heraus ins Freie, ins Helle, mit offenen Armen. Das Foto hat sie berührt und sie hat das Bedürfnis, die Arme dem Kind entgegen zu strecken und es in die Arme zu nehmen. Und sie führt diese Geste auch aus. Und sie hat das Gefühl, dieses kleine Kind in den Armen zu halten und das berührt sie. Sie fragt das Kind (innerlich), was es braucht und sie bekommt die Antwort: „Es will gesehen und akzeptiert werden.“ Und sie nimmt sich vor, täglich vor dem Einschlafen mit diesem inneren Anteil Kontakt aufzunehmen, vielleicht auch diesem inneren Kind einen Brief zu schreiben. Und sie ist der Meinung, das könne ihre Selbstakzeptanz verbessern.
Interpretation
C. G. Jung hat in seiner Analytischen Psychologie das Konzept der Archetypen entwickelt. Shinoda Bolen, eine ‚Neo-Jungianerin‘ hat in ihrem Buch „Göttinen in jeder Frau“ die Archetypen-Lehre von C. G. Jung differenziert und weiterentwickelt und auch den Persephone-(Arche)Typ beschrieben.9 Dabei hat sie auf den Entwicklungsweg der Persephone hingewiesen, vom ‚Kore-Mädchen‘ zur Göttin der Unterwelt, die den Menschen auf ihrem Entwicklungsweg helfen kann. Der Übergang vom Mädchen zur Führerin der Unterwelt (des Unbewussten) geht aber nicht linear, sondern führt über eine Entwicklungs-Krise. In der menschlichen Entwicklung ist dies meist in der Mitte des Lebens.
Christelle ist ein Beispiel für eine Kind-Frau, die in der Mitte des Lebens innerlich an der Schwelle vom Archetyp des Mädchens zum Archetyp der Göttin der Unterwelt stehen kann, von der Kind-Frau, zur weisen Frau, die sich im Unbewussten auskennt und damit anderen Menschen helfen kann. Dazu ist die (positive) Überwindung der Krise und der Eintritt in einen neuen Entwicklungsweg notwendig. Erfahrungen mit Therapie und (Entwicklungs-)Coaching können ihr dabei helfen.
Literatur, Links, Filme, Hinweise
Persephone, Kind-Frau
Shinoda Bolen: Göttinen in jeder Frau. Psychologie einer neuen Weiblichkeit. Heyne 2004
Franz Merkle: Persephone – oder – Die Entstehung der Jahreszeiten. (Der Mythos der Persephone wird als Kindergeschichte erzählt und illustriert)
Andrea Dechant: Persephone – Toten-, Unterwelts- und Fruchtbarkeitsgöttin der griechischen Mythologie
Die Archetypen Deiner Seele. (Die Kindfrau wird als Archetyp beschrieben)
Geißler, Sina-Aline und Bergmann, Wolfgang (1991): Der neue Lolita-Komplex.München: Rastatt und Wilhelm Heyne Verlag.
Gerigk, Horst-Jürgen (2009): Salome und Lolita: Die „Kindfrau“ als Archetypus. In: Edith Düsing, Hans-Dieter Klein (Hrsg.): Geist, Eros und Agape: Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, S. 463-479
Jung, Carl (1940): Zur Psychologie des Kindarchetypus. In: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf (Hrsg.). Olten: Walter-Verlag, S. 165-195.
Lavizzari, Alexandra (2005): Lolita, Lulu und Alice: Das Leben berühmter Kindmusen. Berlin: edition ebersbach.
Simon Mathis: „Lolita„. Wort, Symbol und Archetyp. 2010
Andrea Bramberger: Die Kindfrau: Lust, Provokation, Spiel. Matthes & Seitz 2000
Marianne Sinclair: Hollywood Lolita. Der Nymphchen-Mythos. Heyne 1993
Edda Margeson: Tracing Lolita:Defining the Archetype of the Nymphet in 20thand 21stCentury Literature and Culture. emergencejournal 2018-05
Buchacher Sylviea: Die Kindfrau in der Werbung – zu einer Phänomenologie und Psychologie. Diplomarbeit, 2007
Die Kind-Frau in der Kunst
Vladimir Nabokov: Lolita. 2017 (Original 1955), Roman (Penguin UK 2012)
Lolita. Film, (USA 1962) Regie: Stanley Kubrick (IMDb)
Theodor Fontane: Effi Briest, GRIN-Verlag 2009 (Original 1895)Die
Enthauptung des Täufers: Legende der Salome im Neuen Testament. Markus 6, 14-29
Oscar Wilde: Salome. Reclam 1990 (Reclams Universalbibliothek Nr. 4497), Original
Salome: Oper in einem Akt von Richard Strauss. Synopsis in Opernführer. Die Oper basiert Oscar Wilde’s Roman Salome10
Léon – Der Profi (Film, Frankreich, 1994) Regie Luc Besson
Überbehütung / Helikopter-Eltern (und Auswirkung auf Burnout)
Jutta Rogge-Strang: Jesper Juul: Wie Überbehütung den Kindern schaden kann. in RTL News, 12. 2. 2016. https://www.rtl.de/cms/jesper-juul-ueberbehuetete-kinder-sind-vernachlaessigte-kinder-1841538.html.
Wendy Mogel: The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children, New York, London, Toronto, Sydney, Singapore: Scribner, 2001
Lena Jakat: Wo die Helikopter kreisen, Besprechung des Dokumentarfilms ‚Generation Weichei‘ (2010) Süddeutsche Zeitung-online 2014, https://www.sueddeutsche.de/medien/generation-weichei-auf-3sat-wo-die-helikopter-kreisen-1.1905491
Focus-Redaktion: An der Nabelschnur durchs Leben gezogen, 26. Mai 2012, https://www.focus.de/kultur/medien/kultur-und-leben-medien-an-der-nabelschnur-durchs-leben-gezogen_aid_757886.html
Carola Padtberg: Zu viel des Guten. https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/helikopter-eltern-wie-ueberbehuetung-den-kindern-schaden-kann-a-915507.html
Dantse Dantse: Burnout Generation – programmiert, um völlig auszubrennen: Wie Burnout-Anfälligkeit und Erschöpfungsmentalität in der Kindheit eingepflanzt werden. Besprechung in lob-magazin (Überbehütung führt zu burnout)
Jonas Vogt: Sind wir Millennials die Generation Burnout? Das „Millennial-Burnout“ gilt als großes Thema. Doch befindet sich tatsächlich eine ganze Generation im Erschöpfungszustand? Ein Millennial auf Spurensuche
Querverweise
Persephone – das Mädchen in Dir
Archetypen 2 – Beispiele, Systeme
Das ewig Weibliche im Menschen und im Unternehmen (Themenübersicht)
Demeter – die mütterlichen Anteile in Dir
- Vgl. dazu meinen Blog-Beitrag „Persephone das Mädchen in dir“ ↵
- Vgl. Vladimir Nabokov: Lolita. „Lolita ist die Geschichte des Literaturwissenschaftlers Humbert Humbert, der ein Mädchen – die elfjährige Dolores Haze – begehrt. Um Dolores näher zu sein, heiratet er deren Mutter, Charlotte Haze. Nachdem diese bei einen Verkehrsunfall stirbt, entführt Humbert seine Stieftochter und reist mit ihr quer durch die USA. Während dieser Zeit missbraucht er sie mehrfach. H.H.s Besessenheit führt letztlich zur Ermordung eines Mannes. Er wird verhaftet und verfasst im Gefängnis seine Memoiren. Mit dieser Geschichte über einen Pädophilen hat Nabokov hohe Wellen geschlagen.“ aus Simon Mathis: „Lolita„. ↵
- Kindliche Anteile sind in jeder Psyche vorhanden, man spricht in diesem Zusammenhang vom ‚inneren Kind‚. Die Ausprägung dieses inneren Kindes hat große Wirkung auf die Qualität unseres (Er-)Lebens ↵
- In literarischen Werken findet man auch den Ausdruck „Nymphette“ für die Kindfrau: Nymphen sind zwar Naturgeister, können aber auch als mythologischer Ursprung für Kindfrauen angesehen werden. Auch Nabokov beschreibt seine Lolitas als ‚Nymphchen‘: „… Mädchen, die gewissen behexten … Wanderern ihr wahre Natur enthüllen; sie ist nicht menschlich, sondern nymphisch (das heißt dämonisch) ich schlage vor, diese auserwählten Geschöpfe als ‚Nymphchen‘ zu bezeichnen.“ Vladimir Nabokov: Lolita, S. 25 ↵
- Vgl. dazu meinen Beitrag Persephone – das Mädchen in Dir ↵
- Vgl. z. B. Vladimir Nabokov: Lolita. Lolita. Film, (USA 1962) Regie: Stanley Kubrick. Theodor Fontane: Effi Briest. Die Enthauptung des Täufers: Legende der Salome im Neuen Testament. Markus 6, 14-29. Oscar Wilde: Salome. Reclam 1990, Salome: Oper in einem Akt von Richard Strauss, Léon – Der Profi (Film, Frankreich, 1994); Regie Luc Besson. ↵
- Gerigk, Horst-Jürgen: Salome und Lolita: Die „Kindfrau“ als Archetypus. In: Geist, Eros und Agape. ↵
- Vgl. Andrea Dechant: Persephone – Toten-, Unterwelts- und Fruchtbarkeitsgöttin der griechischen Mythologie ↵
- Vgl. dazu meinen Blog-Beitrag „Persephone das Mädchen in dir“ der auch mit Reflexionsfragen und einen kleinen Selbsttest verbunden ist. ↵
- Salome (die Kind-Frau) in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss. Die Kind-Frau Salome ist enttäuscht von der Zurückweisung des Propheten und fordert dessen Kopf. Synopsis in Opernführer „In König Herodes‘ Palast findet ein Gelage statt, das Salome angeekelt verlässt. Draußen hält Hauptmann Narraboth Wache, der sich in Salome verliebt hat, obwohl Herodias‘ Page warnt, dieser Leidenschaft nachzugeben. Aus der Zisterne tönt die Stimme des Propheten Jochanaan, den Herodes auf Betreiben seiner Gattin dort gefangen hält. Noch im Kerker wirft der Prophet Herodias ihre Sünden vor und mahnt zur Busse. Die Prinzessin wünscht, Jochanaan zu sehen, und Narraboth lässt den Propheten aus dem Gefängnis holen, obwohl der König dies streng verboten hat. Jochanaan steigt aus der Zisterne, geißelt Herodias‘ Lasterleben und verkündet die Ankunft des Erlösers. Salome, die von dem jungen Propheten fasziniert ist, will sich ihm nähern, wird aber nicht eines Blickes gewürdigt. Rasend vor Begierde möchte die Prinzessin Jochanaan berühren, doch dieser stößt sie verachtungsvoll weg und geht in die Zisterne zurück. Enttäuscht von dem Verhalten der Prinzessin ersticht sich Narraboth. Herodes, der nach Salome sucht, tritt mit seinem Gefolge aus dem Saal und sieht die in sich versunkene Salome und den toten Narraboth, den er fortschaffen lässt.
Herodias und die Juden bestürmen den König, Jochanaan töten zu lassen. Doch dazu kann sich Herodes nicht entschließen, weil er den Propheten für einen heiligen Mann hält. Wieder erklingt dessen Stimme, von neuem fordern Herodias und die Juden den König auf, Jochanaan zum Schweigen zu bringen. Um davon abzulenken, bittet Herodes Salome, für ihn zu tanzen. Die Prinzessin, die sich schon vorher gegen das aufdringliche Verhalten ihres Stiefvater gewehrt hat, weigert sich zu tanzen und ist erst bereit, seinem Verlangen nachzugeben, als dieser geschworen hat, jeden Wunsch der Prinzessin zu erfüllen. Salome tanzt den Tanz der sieben Schleier, die langsam nacheinander zu Boden fallen. Herodes ist begeistert. Sein Entzücken schlägt jedoch in Entsetzen um, als Salome Jochanaans Kopf fordert. Nichts kann die Prinzessin davon abbringen, obwohl Herodes alles, was er besitzt, anbietet. Der Henker geht in die Zisterne und bringt auf einer Silberschüssel den Kopf des Propheten, wie es Salome verlangt hat. Wie im Traum spricht Salome mit Jochanaan und küsst den Toten. Außer sich vor Ekel gibt Herodes Befehl, die Prinzessin zu töten. Sie stirbt unter den Schilden der Soldaten.“ ↵