Die dänische Regisseurin Susanne Bier1 macht (fast) nur Entwicklungsfilme. So auch ihre bitter-süße Romanze und Tragikomödie2 „Den skaldede frisør“ (dänisch, wörtlich: ‚Die kahle Frisörin) aus dem Jahre 2012, eine romantische Filmkomödie mit vielen Entwicklungs-Inhalten und einer umwerfenden Trine Dyrholm als Mutter der Braut. Bei uns lief der Film mit dem kommerzialisierten Titel „Love is all you need„.3
Mini-Plot
In Kurzform4 geht es bei diesem Film um die Hochzeit eines jungen (dänischen) Paares, deren Eltern in einer Krise stecken. (Die Mutter des Bräutigams ist schon verstorben.) Es soll eine sehr romantische Hochzeitsfeier sein, die detailliert geplant wird. Bei der Vorbereitung der Hochzeit kommen die Familien-Probleme, die zum Teil als Geheimnis gehütet werden, ans Tageslicht. Die Dynamik der Probleme reißt das Brautpaar mit. Die Hochzeit wird abgesagt. Doch die Mutter der Braut und der Vater des Bräutigams kommen einander näher. Durch die Aufdeckung der Familien-Geheimnisse und die Aufarbeitung der Familien-Probleme kommt es zu Entwicklungs-Impulsen bei (fast) allen Beteiligten, vor allem beim Bräutigam.5 67
Trotz vieler angesprochener Probleme ist der Streifen ein Wohlfühl-Film mit vielen lustigen und romantischen Szenen, nicht zuletzt auch aus dem Hintergrund der Atmosphäre einer alten, etwas verfallenen Villa mit Meerblick in einem (Orangen- bzw.) Zitronen-Hain in Italien (Sorrent, Amalfi-Küste) und einer Gartenparty und der begleitenden Musik von Dean Martin („That’s Amore“). 8 9. Nach Birgit Roschy „kollidiert das Rosamunde-Pilcher-Ambiente mit dem aus Dogma-Filmen bekannten gnadenlosen Ausleuchten zwischenmenschlicher Verwerfungen.“ 10
Film-Interpretation – Entwicklungs-Perspektive
Filme können aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert werden. Hier ist die Entwicklungs-Perspektive gewählt. Wer entwickelt sich persönlich im Film und wodurch wurde diese Entwicklung angeregt.
Die geplante Hochzeit eines jungen Paares wird für die beiden und deren Eltern zum Entwicklungs-Anlass:
- Anlass für ihre persönliche Entwicklung und
- Anlass für die Familien-Entwicklung bzw. Familien-Klärung.11
Die Entwicklung von Vater und Sohn
- Philipp, der Vater des Bräutigams, gibt sich am Anfang als mürrischer Kotzbrocken, der nur seine Firma im Kopf hat und mit den Mitarbeitern und anderen Menschen lieblos und achtlos und sehr distanziert umgeht. (Ide sagt nach einem geschäftlichen Telefonat von Philipp im Taxi, sie wundere sich, dass irgendwer mit ihm abeisten will. Er antwortet, dass sie ja gut bezahlt würden.)
Seinem Sohn begegnete er in Selbstmitleid wegen seiner verstorbenen Frau, deren Tod er noch nicht verwunden hat. Seine Vater-Rolle hatte er vernachlässigt.
Im Laufe des Films entwickelt sich zu einem liebevollen und liebenden Menschen, Partner und Vater. Außerdem gibt er seiner Schwägerin klare Rückmeldung. Sie macht sich Hoffnung auf eine Beziehung mit ihm, er klärt auf, dass das nicht für ihn in Frage kommt. Zusätzlich bringt er seine Absicht zum Ausdruck, seine einseitige Arbeits-Orientierung auf Kosten des privaten Lebens aufzugeben möchte. - Sein Sohn, Patrick, der Bräutigam macht vermutlich den größten Entwicklungsschritt.
Er ist noch nicht von seinem Vater gelöst und macht am Anfang das, was er bisher sein ganzes Leben getan hat: Er tut alles, um seinen Vater zu gefallen und seine Anerkennung zu bekommen. Durch einen Kuss mit einem Hochzeits-Helfer klärt sich seine homosexuelle Orientierung. Er steht dazu und entscheidet gemeinsam mit seiner Braut, die Hochzeit abzusagen – keine leichte Entscheidung angesichts der Tatsache, dass viele Gäste von weither zur Hochzeitsfeier gekommen sind.
Zuvor sucht er allein eine Klärung in einer abgelegenen Bucht. Die Braut ist verwirrt und sucht seinen Vater aus. Vater und Sohn haben eine Aussprache. Der Vater will ihm helfen, aber Patrick schickt ihn weg. Patrick schickt ihn weg, was schwer für den Vater ist. Aus Patrick’s Sicht ist es richtig, denn er beginnt sich zu lösen und will sein eigenes Leben führen – ohne Orientierung am Vater. Man kann das auch so sehen: Er will seine Vaterbotschaft (eine Introjektion) durch seine Selbst-Botschaft ersetzen. Dazu ist ihm der Vater – auch wenn er mit besten Absichten zu ihm kommt – im Wege („Trennungs-Aggression ist notwendig.“)
Später, nachdem Patrick die Absage der Hochzeit bekannt gegeben hat, kommen die beiden wieder zusammen.
Patrick weiß vorerst nicht, wie er sein Leben jetzt führen will. Aber er gibt seine falsche Lebens-Orientierung, seine Täuschung auf. Er ist ent-täuscht im positiven Sinn. Das ist typische für die Zeit nach der Lösung von den Eltern: Man weiß, was man nicht mehr will, aber weiß noch nicht, was man will. Manchmal kann diese Phase sehr lange dauern.
Die Entwicklung von Mutter und Tochter
- Ida, die Mutter der Braut, eine liebevolle und liebenswerte Frau mit ‚Looser-Tendenzen‘ am Beginn ist verängstigt wegen ihrer Krebs-Operation und -Nachbehandlung.
Sie hat auch die Gewohnheit, alles für ihrer Familie und für ihre Ehe zu opfern und zusätzlich alles unrealistisch schön zu färben. Diese ungesunde Bereitschaft, sich aufzuopfern12 hält sogar noch an, als sie nach der Rückkehr vom Krankenhaus ihren Mann mit seiner Geliebten in sexueller Intimität antrifft und sogar dann noch, als ihr Mann zur Hochzeit ihrer Tochter mit seiner Geliebten, die sich als seine Verlobte ausgibt, erscheint. Sie „ist als still Leidende eine Sympathieträgerin, die in ihrer engelhaften Geduld eigentlich zu gut für diese Welt ist, mit ihrer Gutheit aber auch inmitten ärgster Genreklischees nicht nervt.“13
Am Ende wirkt sie viel sicherer, mit weniger Angst ihrer Krankheit gegenüber. Sie hat sie gelernt, sich abzugrenzen, ihrem lieblosen Mann, der sie zurückhaben will, klar zu sagen, dass sie nicht den Lebensabend mit ihm verbringen und sich von ihm trennen will. Und sie ist bereit, eine neue Liebe einzugehen. - Auch Astrid, die Tochter, die Braut macht Entwicklungs-Schritte, die vor allem mit Ent-Täuschungen verbunden sind. Sie war verwirrt, weil es bisher bei aller Liebe noch zu wenig Intimitäten gekommen ist. Sie hat sich- wie ihr Bräutigam – getäuscht, aber diese Täuschungen werden aufgeklärt. Sie hat sich getäuscht in der Einschätzung ihrer Beziehung zu ihrem Bräutigam, getäuscht über seine sexuelle Orientierung, getäuscht über die Qualität der Ehe ihrer Eltern. Außerdem hatte sie einen geringen Selbstwert, fand sich selbst nicht attraktiv, was verstärkt wurde, weil ihr Bräutigam mit ihr noch nicht intim gewesen war. Diese Täuschungen wurden aufgeklärt und bilden die Basis für ein besseres Leben und Verbesserung ihres Selbstwerts.
Die Entwicklung der Familiensysteme
- Nicht nur die einzelnen Personen haben sich entwickelt, auch die Familiensysteme erfuhren eine Entwicklung.
- Familien-Geheimnisse wurden offengelegt (sexuelle Orientierung des Bräutigams, Doppelleben des Vaters der Braut, …),
- alte, leblose Beziehungen und Familien-Systeme wurden aufgelöst und
- ein neues lebendiges, liebevolles System gegründet.
Zusammenfassung
Der Film geht über eine Dauer von nur wenigen Tagen: kurz vor bis kurz nach der Hochzeit. In dieser Zeit sind alle Hauptbeteiligte in Krisen verwickelt (Ehe-Krise von Ida und Leif, ihrem Ehemann, Entwicklungskrise des Bräutigams, …). Diese Krisen machen das Verlassen der Komfort-Zone notwendig und führen bei fast allen zu Entwicklungs-Schritten (nicht oder wenig bei Leif und Benedikte).
Der Film ist somit ein gutes Beispiel für die Ansätze, die
- Selbstentwicklung in persönlichen Krisen und
- die Entwicklungs-Forderung: „Heraus aus der Komfort-Zone„
betonen.
Im Film enthaltene (Entwicklungs-)Themen
Im Film sind zahlreiche Entwicklungs-Themen enthalten, z. B.
- Familie, Familien-Film, Familien-Krise, Familien-Geheimnisse, unvollständige Familie
- Ehe (in der Krise), Beziehung, Witwer
- (romantische) Hochzeit, (detaillierte) Hochzeits-Planung /-Vorbereitung, Absage der Hochzeit
- Bindung, (Suchen und Finden einer neuen) Liebe, Verliebtheit, Trennung
- Untreue / Seitensprung, (junge) Geliebte, Dreiecks-Beziehung
- Peinliche Situation
- Alleinerzieher, unvollständige Familie
- Looser-Typ, Pechvogel, Unglücksrabe, Stehauf-Männchen (-Weibchen)
- schwere Krankheit, /Brust-)Krebs, OP, entfernte Brust, Haarausfall / Glatze / Perücke, den Krebs besiegen
- Mutter-Tochter-Beziehung, Vater-Sohn-Beziehung, Aussprache Vater – Sohn, Aussprache Mutter – Tochter
- Schwieger-Familie, Schwieger-Mutter, Schwieger-Vater, Familien-Unterschiede
- Lebens-Entscheidung, mutige Entscheidung, ein neues Leben beginnen, Neuanfang, Lebensmut
- Lebensweg, die Leiden und Freuden des Lebenswegs14
- Gefahr vor weiteren emotionalen Verletzungen meiden, zaghafte Annäherung
- Romantik, alte Villa, Orangen-Hain, Italien
- Entwicklung aus der (persönlichen) Krise, Familien-Entwicklung, Familien-Klärung
- Lebensfreude wieder gewinnen, Optimismus, Schönfärben, (schöne Momente) genießen, sich den schönen Seiten des Lebens widmen
- Verletzlichkeit zeigen15
- unerwiderte Gefühle (Philipp und Schwägerin)
- den Vater glücklich machen wollen
Reflexionsfragen zum Film
- Mit welchem Charakter, welcher Rolle, welcher Rolle im Film habe ich mich identifiziert? Was sagt das über mich?
- Welche Personen, Charaktere im Film waren mir sehr unsympathisch oder haben mich extrem negativ emotional berührt? Was sagt das über mich oder mein (vergangenes oder derzeitiges) Leben. Könnte es sein, dass Anteile davon in mir, in meinem (verdrängten) Schatten enthalten sind?
- Welche Szenen haben mich berührt bzw. emotional angesprochen? Welche Bezüge hat das zu mir, zu meinem derzeitigen Leben, zu meiner Vergangenheit?
- Wie gelöst oder abhängig bist du von deinen Eltern? Wann hast du dich gelöst? Oder: Warum bist du noch ungelöst? Was hindert dich, dich zu lösen?
- Wo tendiere ich dazu, mir etwas vorzumachen, die Dinge unrealistisch schönzufärben? (Wie die Mutter der Braut im Film?)
- Wo zeige ich liebloses oder unachtsames Verhalten im Unternehmen, in der Familie, in anderen Beziehungen bzw. sozialen Systemen? (Wie der Vater des Bräutigams zu Beginn des Films)
- Gibt es leblose, erkaltete Familien-Beziehungen bzw. -Systeme in meinem Leben? (Wie die Eltern der Braut) Was könnte ich tun, um sie zu beleben oder liebevoller zu gestalten?
- Gibt es Verlust-Erlebnisse, die mich geprägt haben (wie die Braut-Eltern, die Mutter ist früh verstorben)
- Über welche Verluste sind Mitglieder meiner Familie noch nicht hinweg gekommen? Welche Konsequenzen hat das? Was kann ich zur Verbesserung (der Verarbeitung dieser Verluste) beitragen.
- Gibt es Vater-Sohn– oder Mutter-Tochter-Beziehungen, die denen im Film ähneln?
Querverweise
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Anhang: Der Plot
Eine Kurzdarstellung aus Arte-TV:16
o. A.: Love is all you need. Aus: https://www.heftfilme.de/dvd/love-is-all-you-need/.
o. A.: Love is all you need. Aus: zweitausendeins.de. https://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach=titel&wert=540859.
- Susanne Bier ist Oscar-Preisträgerin 2011 für ihren Film „In einer besseren Welt“ ↵
- Vgl. Robert Cherkowski: All you need is love ↵
- Das Drehbuch schrieb Anders Thomas Jensen und die Zusammenarbeit Jensen – Bier hat bereits drei ausgezeichnete Filme hervorgebracht. „Brothers – zwischen Brüdern“, „Nach der Hochzeit“ und „In einer besseren Welt“ ↵
- Etwas genauer wird der Film im Anhang unten beschrieben. ↵
- Der Kurzplot bei imdb: „A hairdresser, who has lost her hair to cancer, finds out her husband is having an affair, travels to Italy for her daughter’s wedding, and meets a widower who still blames the world for the loss of his wife.“ ↵
- Die ’storyline‘ bei imdb: „A Danish woman, Ida (Trine Dyrholm), who has just finished her cancer treatments, walks in on her suffering husband in bed with his young co-worker. She travels alone to their daughter’s wedding, which is to take place in Italy, but meets the father of the groom, Philip (Pierce Brosnan), and immediately makes a bad first impression. At the seaside villa where Philip once lived with his wife, conflicts arise not least between the soon-to-be newlyweds. But first impressions fade, and Ida may find her chance for another life. Written by Peter Brandt Nielsen “ ↵
- Inhaltsbeschreibung im Lexikon des Internationalen Films. Zweitausendeins: „Eine Friseurin, die an Brustkrebs erkrankt ist und eine harte Chemotherapie hinter sich hat, ertappt ihren Mann beim Seitensprung und verlässt ihn. Bei der Hochzeit ihrer Tochter an der sonnigen Amalfi-Küste begegnet sie nicht nur dem Untreuen und seiner dümmlichen Geliebten, sondern auch dem zukünftigen Schwiegervater ihrer Tochter, einem Geschäftsmann, der für die vom Schicksal gebeutelte Friseurin langsam auftaut. Romantische Komödie mit pittoreskem Schauplatz und einer überzeugenden Hauptdarstellerin, die zugunsten recht holzschnittartiger, bis zur Karikatur verzerrter Ensemble-Charaktere allerdings öfter aus dem Fokus gerät.“ (2. 8. 2018) ↵
- Stimmung, Musik, Handlung und die Rolle von Peirce Brosnan lassen den Film an den Film „Mamma Mia“ erinnern. ↵
- Aus cineastischer Sicht wird der Film eher kritisch beurteilt, vor allem, wegen seiner „schamlosen Romantik“ [1. vgl. Susan Vahabzadeh: Allein unter Dänen ) und weil einige Charaktere eher old-Hollywood-artig überzeichnet sind, z. B. der etwas naive und unverfrorene, gleichzeitig sich selbst bemitleidende Leif, der Ehemann von Ida und seine etwas dümmliche und nuttige Freundin und Kollegin des Braut-Vaters aus der Buchhaltung, Thilde, die sich am Fest als seine Verlobte ausgibt, ebenso Philips zickige, zänkische, aufdringliche und hochnäsige Schwägerin Benedikte, ein „taktloser Trampel“[1. Birgit Roschy: Rosamunde Pilcher wird in den Abgrund geschickt ↵
- Birgit Roschy: Rosamunde Pilcher wird in den Abgrund geschickt. Dogma-Filme sind Filme, die nach dem Manifest „Dogma 95“ (von dänischen Filmregisseuren Lars von Trier und Thomas Vinterberg u.a.) hergestellt werden. Darin sind filmische ‚Keuschheitsregeln‘ enthalten, die sicherstellen sollten, dass Filme wirklichkeitsnahe hergestellt werden: nur Handkameras, keine künstliche Beleuchtung und keine Spezialeffekte … vgl. Dogma 95 Manifest, z. B. der Film „Das Fest„, vgl. auch Philipp Krohn: „Dogma 95“, zehn Jahre danach ↵
- Die Mutter der Braut fliegt mit dem Vater des Bräutigams. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie in der Flughafen-Garage in sein Auto fährt und einen hysterischen Anfall bekommt. Hier zeigt sie sich in ihrer Opfer-Rolle. Im Laufe der Zeit kommen sich die beiden immer näher. ↵
- aufopfernde / dependente Persönlichkeits-Struktur /-Störung ↵
- aus Birgit Roschy: Rosamunde Pilcher wird in den Abgrund geschickt. ↵
- vgl.
„Love Is All You Need press kit“ (Press release) ↵ - .. „wenn Ida, in einem scheinbar unbeobachteten Moment, schwimmen geht, wird sie bar ihrer Perücke und mit der Operationsnarbe auf der Brust in ihrer ganzen Verletzlichkeit präsentiert“. [1. Birgit Roschy: Rosamunde Pilcher wird in den Abgrund geschickt ↵
- Arte-TV: Love is all you need ↵
- vgl. Wilfried Hippen, Wo die Zitronen blühen ↵