Geschichte
„Ein wandernder Zimmermann namens ‚Stein‘ sah auf seiner Wanderung einen riesigen alten Eichbaum, der beim Erdaltar im Felde stand. Der Zimmermann sagte zu dem ihn bewundernden Gesellen: ‚Das ist ein unnützer Baum; wolltest du ein Schiff daraus machen, es würde bald verfaulen; wolltest du Geräte daraus machen, sie würden bald zerbrechen … Aus dem Baum lässt sich nichts machen, man kann ihn zu nichts gebrauchen, darum hat er es auf ein so hohes Alter bringen können.‘
Als aber der Zimmermann an diesem selben Abend einkehrte und übernachtete, erschien ihm der Eichbaum im Traum und sprach: ‚Willst du mich vergleichen mit euren Kulturbäumen, wie Weißdorn, Birnen, Orangen, Apfelsinen und was sonst noch Obst und Beeren trägt? Sie bringen kaum ihre Früchte zur Reife, so misshandelt und schändet man sie. Die Äste werden abgebrochen, die Zweige werden aufgeschlitzt. So bringen sie durch ihre eignen Gaben ihr eigenes Leben in Gefahr und vollenden nicht ihrer Jahre Zahl … So geht es überall zu. Darum habe ich mir schon lange Mühe gegeben, ganz nutzlos zu werden. Sterblicher! … Nimm an, ich wäre zu irgend etwas nütze; hätte ich dann wohl diese Größe erreicht? Und außerdem du und ich, wir sind gleichermaßen Geschöpfe. Wie soll ein Geschöpf dazu kommen, das andere von oben her beurteilen zu wollen? Du, ein sterblicher und unnützer Mensch, was weißt du von den unnützen Bäumen!‘
Der Zimmermann erwachte und überlegte dann den Traum, und als sein Geselle ihn fragte, wieso gerade dieser Baum dazu kam, dem Erdaltar zu dienen, antwortete er ihm: ‚Halt den Mund, kein Wort mehr darüber; er wuchs absichtlich da, weil sonst die, die ihn nicht kannten, ihn misshandelt hätten. Wäre er nicht Baum am Erdaltar, so wäre er wohl in Gefahr gekommen, abgehauen zu werden.“
Ursprung
Marie-Louise von Franz bringt diese Geschichte des chinesischen Weisen Tschuang Tse in ihrem Beitrag „Der Individuationsprozess“ im Sammelband von C. G. Jung „Der Mensch und seine Symbole“. 1
Interpretation
„Der krumme Baum lebt sein Leben.
Der gerade Baum wird ein Brett.“
Chinesisches Sprichwort.
Die Geschichte weist uns darauf hin, wie wichtig unser persönlicher Entwicklungsprozess ist. In der Analytischen Psychologie und Psychotherapie von C. G. Jung nennt man dies „Individuation„. Unsere (Lebens-)Aufgabe ist es, das was in uns angelegt ist zu entwickeln, zu einem einzigartigen Individuum zu reifen und die entwickelten Potenziale für die Gestaltung unseres Lebens anzuwenden. Sonst werden wir später einmal auf unser Leben nicht mit Zufriedenheit zurückschauen können, selbst wenn wir viel gearbeitet und gute, vielleicht sogar großartige Leistungen erbracht haben. Diese Leistungen können die mangelnden Ergebnisse unseres inneren Lebens nicht kompensieren. Wir haben dann unsere ‚Bestimmung‚ oder wie immer wir es nennen wollen, nicht verwirklicht, was laut v. Franz „das größte ist, und vor (dem) das menschliche Zweckdenken zu verstummen hat.“2
Es ist also wichtig, zumindest zeitweise das bewusste Zweckdenken aufzugeben und uns dem inneren Wachstum der Psyche hingeben.
In Bezug auf die Herausforderungen des Lebens heißt dies,
nicht sein Handeln und Entscheidungen daran zu orientieren,
- „was man in diesem Fall tut oder tun sollte“,
- was die Gesellschaft oder andere Personen erwarten,
- primär daran zu denken „was sagen oder denken die Anderen dazu?“
sondern in erster Linie in sich hinein horchen und zu fragen:
- „Was ist meine authentische / richtige Antwort auf diese Herausforderung?“
- „Wofür stehe ich und wozu stehe ich (auch später)?“
- „Was will meine innere Ganzheit, mein Selbst hier und jetzt in dieser Situation von mir oder durch mich erwirken?“3
Selbstreflexion
- Was sagt mir die Geschichte von der alten Eiche? Welche Bezüge hat sie zu meinem Leben und Erleben in Gegenwart und Vergangenheit?
- In welchem Ausmaß ist mir wichtig, was die Anderen denken oder sagen zu mir und meinem Handeln?4
- Wo muss oder will ich mich den Erwartungen der Anderen anpassen? Wo möchte ich ganz authentisch (mit Bezug zu den Antworten meines Selbst) handeln?
- In welchem Ausmaß habe ich Verbindung zu meinem Selbst? Kann ich Antworten, die tief in mir verankert sind, empfangen, erahnen, entschlüsseln ..?
- Wie viel Zeit nehme ich mir für mich selbst, für meine persönliche Entwicklung, für echte Erholung? Wie viel Freiräume / ‚unverzweckte Zeit‚ bzw. generell ‚unverzweckte Räume‘ oder ‚unverzweckte Rituale‘5 habe ich? (Wirkliche Freiräume sind unverzweckt.) Kenne und praktiziere ich die „Kunst des Müßiggangs“ oder hat sich in mir der Zwang der Leistungsethik6 , breit gemacht?
Ritual (Meditation) zur Individuation –
In sich hinein horchen: innere Bilder
Die folgende Selbsterfahrungs-Übung stammt von Anselm Grün
„Horche in dich hinein und lasse die Bilder auftauchen, die in der Stille in dir hochkommen möchten.
Dann frage dich, wo du diese archetypischen Bilder (besonders kräftige Bilder) in deinem Leben / deinen Lebens-Rollen kennst wie: Heiler, Helfer, Friedensstifter, Versöhner, Rebell, Reformator, Prophet, Kämpfer, Herrscher, …).
Betrachte diese Bilder und frage dich, wo sie dich mit deinen Fähigkeiten in Berührung gebracht haben. Aber frage dich auch, wo diese Bilder zu groß geworden sind für dich. Wo haben sie dich überfordert? Wo stimmen sie nicht mehr?
Sprich mit den Bildern. Danke ihnen, dass sie dich mit dem Potenzial deiner Seele in Berührung gebracht haben. Aber dann distanziere dich auch von ihnen und sage dir: Manchmal vermag ich zu helfen, zu heilen, Frieden zu stiften, zu harmonisieren…
Aber ich bin kein Helfer, kein Heiler, kein Friedensstifter, kein Harmonisierer. Ich bin ein einfacher Mensch, aber mir wurden diese Gaben gegeben. Und diese Gaben erkenne ich durch diese Bilder“7
Querverweise
„Werde, der du bist“ – Individuation als Entwicklungsprozess des Menschen
Literatur und Links
Anselm Grün: Kraftvolle Visionen gegen Burnout und Blockaden. Den Flow beflügeln. Verlag Herder GmbH, 2013. (Zur unverzweckten Zeit, unverzweckten Ritualen, unverzwecken Freundlichkeit, …)
Carl Gustav Jung, Marie-Luise von Franz et al.: Der Mensch und seine Symbole. Walter, 1968. (Melsa Verlag 1979) (Patmos-Verlag 2012). Volltext in issuu.com. https://issuu.com/lereovamp3/docs/cgjungdermenschundseinesymbole
engl. Man and his symbols. 1964. (Doubleday, 1964, Rehák David, 2013)
Marie-Luise von Franz: Der Indivduationsprozess. In: Carl Gustav Jung, Marie-Luise von Franz et al.: Der Mensch und seine Symbole. S. 160 – 229.
Hermann Schoenauer: Spiritualität und innovative Unternehmensführung. Kohlhammer Verlag, 2011. (unverzweckte Zeit für die eigene Entwicklung, S. 585 f.)
o. A.: Müßggang – aber hoch konzentriert. Aus: MDR Figaro. archive.org. https://web.archive.org/web/20090328100711/http://www.mdr.de/mdr-figaro/4753085.html.
- vgl. Marie-Luise von Franz: Der Indivduationsprozess., S. 163 ff. in C. G. Jung 2015 ↵
- Marie-Luise von Franz: Der Indivduationsprozess., S. 163 ↵
- vgl. Marie-Luise von Franz: Der Indivduationsprozess., S. 163 ↵
- Vgl. dazu den Beitrag zur Normopathie. ↵
- vgl. Anselm Grün: Kraftvolle Visionen gegen Burnout und Blockaden. , Kap. ‚Die Kraft der Rituale‘ ↵
- Vgl. Ceming, Muße ↵
- aus Anselm Grün: Kraftvolle Visionen gegen Burnout und Blockaden , Kap. ‚Die Kraft der Rituale‘, leicht verändert ↵